Heft 
(1984) 37
Seite
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Annäherung Fontanes an den englischensozialen Realismus einer deut­lichen Modifizierung bedürftig scheint 6 .

Zweifellos teilt K. insgesamt eine große Zahl interessanter Beobachtungen mit; er vermag den Leser zu größerer Aufmerksamkeit für die Stoff- und Themenwahl, für die Anlage der Figuren und ihrer Konflikte, für die ver­wendeten poetischen Darbietungsformen anzuregen, also zu einem bewuß­teren Lesen allgemein, was gerade bei einem so konsumtiven Genre wie dem Roman ein großer Gewinn ist. Zum tieferen Verständnis freilich der objektiven und subjektiven Voraussetzungen unterschiedlicher literarischer Gestaltungsweisen wie deren Bedeutung für die zeitgenössische und aktu­elle Rezeption vermag er nur wenig beizutragen. Dabei ist es im Hinblick auf den englischen Leser als den Hauptadressaten des Buches besonders bedauerlich, daß die hier nicht näher zu diskutierende gutgemeinte, aber doch wohl wiederum der einseitig-verengten Sicht auf die Literatur­entwicklung geschuldete Rechtfertigung derdeutschen Tradition des Romans aus ihrer vorbildhaften Bedeutung für die Literatur des 20. Jahr­hunderts wenig geeignet scheint, dem deutschsprachigen Erzählen des 19. Jahrhunderts selbst ein größeres und verständnisvolles Publikum zu gewinnen.

Bei Ks Bemerkungen zur Literatur des 20. Jahrhunderts drängt sich der Eindruck auf, daß er den begrenzt tragfähigen Boden, den ihm die positi­vistische Methode zunächst hatte bieten können, zunehmend verläßt. Viele der hier aufgestellten Thesen konnten nur auf Grundlage der radikalen Ausklammerung ganzer literarischer Erdteile und eigenständiger Tradi­tionslinien formuliert werden. Dabei ist der Ausgangspunkt, daß seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die bürgerliche Gesellschaft immer weniger als Raum humaner Selbstverwirklichung erfahren werden konnte und ein Prozeß auch literarischer Ausgliederung einsetzte, durch­aus produktiv: die daraus abgeleitete These vom Verfall des Romans schlechthin (S. 225) freilich ist schon angesichts der Entwicklung des Genres in England nur vom Standpunkt einer Poetik aus denkbar, die die Modelle der Vergangenheit zur Norm erhebt. Das Niveau der Gedankenführung sinkt streckenweise auf das eines schlechten, weil unzureichend recher­chierten Journalismus und Feuilletonismus ab: für solche Oberflächlichkeit ist die von keinem ernsthaften Geschichtsverständnis getrübte Bereitschaft kennzeichnend, verlogene und bösartige antikommunistische Klischees gleichsam beiläufig einzubringen, wie dies in der Gleichsetzung vonNazi and Soviet concentrations camps (S. 210) undthe Nazi genocides and the Gulag Archipelago (S. 217) geschieht 7 . Ähnlich oberflächlich und bösartig, in der Häufung von Naivität, Unkenntnis, Halbwahrheit und Entstellung aber schon fast wieder komisch wirken die Anmerkungen zur Literatur­gesellschaft der DDR, auf die K. im Zusammenhang mit der postulierten Krise des Romans zu sprechen kommt, die er u. a. auch durch die wachsende Gleichgültigkeit des Publikums bedingt sieht. Dank der im staatlichen Besitz befindlichen Verlage, die nicht auf Profit angewiesen seien, sowie angesichts der weniger zahlreichen anderen Möglichkeiten der Unterhaltung sei die Veröffentlichung von Romanen und deren Lektüre imSoviet orbit, including East Germany (S. 227) nicht so stark zurückgegangen wie im

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