Umfang anregender Überlegungen einschätzen zu können, die Hertling, Germanistik-Professor an der Universität Washington, Seattle, USA, zur Diskussion stellt. Da er das erstere nicht ist, sucht er den Kontakt zu dem Aufsatz vorrangig dort, wo sich Erkenntnisgehalt für das Fontane-Verständnis bietet. Bezugspunkte sollen dabei einige wichtige Positionen des Autors und seine „Stine“-Interpretation (S. 42—89) sein, die durch den „Humanitätsgedanken am Ausklang zweier Jahrhunderte“ als inhaltlichstrukturelle Klammer des Aufsatzes mit einer knappen Librettointerpretation der „Zauberflöte“ von Mozart/Schikaneder (S. 21—31) verbunden ist.
Bevor wir uns diesen Interpretationen nähern, macht uns Hertling freilich deutlich, daß er sich von - seinem Begriff nach — „marxistischen“ Auffassungen zum Gegenstand abgrenzt (S. 16 ff., 41), wobei sich der vulgärsoziologische Charakter dieser Auffassungen schnell herausstellt. Die Identifikation solcher Positionen mit marxistischen in der bürgerlichen wissenschaftlichen Polemik ist indessen nicht neu und bedarf an dieser Stelle keiner erneuten Widerlegung.
Hertling nennt in einem ersten Kapitel (S. 5—8) das Ziel, seine Untersuchungen den „paradoxen Verhältnissen zwischen Spiel und Realität, zwischen kunstvoller Poesie einerseits und deterministischer Lebenstragik andrerseits“ (S. 7) in „Stine“ zu widmen, ehe er in einem zweiten kurz auf die Bedeutung „flgurative(r) Namengebung“ für den Roman eingeht (S. 8—10) und damit einen vorläufigen thematischen Bezug zur gesamten Abhandlung herstellt. Das Kapitel III erarbeitet sich, nach Erklärungen zur Freimaurer-Problematik bei Mozart und Informationen zum Mozart- Sekundärschrifttum, eine Interpretation des „Zauberflöten“-Librettos, die sich an die Struktur der äußeren Geschehnisse des Musikdramas hält, und geht dabei in ähnlicher Weise vor wie das — umfangreichste — 4. Kapitel, in dem Hertling Fontanes „Stine“ in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Ein abschließendes 5. Kapitel sucht noch einmal den Widerspruch zwischen einst gewollter Harmonie (Mozart) und dann nicht mehr realisierbarer Humanität (Fontane) auf und gibt dem Autor-Gedanken an zukünftige Humanität und gesellschaftliche Harmonie Ausdruck. Der wissenschaftliche Apparat vermittelt sparsame zusätzliche Informationen und sieht sich zugleich als Literaturverzeichnis, auf das sich ein „Namen- und Werkverzeichnis“ am Schluß der Abhandlung bezieht.
Was die Hertling-Untersuchung unserem Interesse öffnet, ist das uneingeschränkte Bekenntnis ihres Autors zum Humanismus und zur humanistischen Tradition in der Kunst. Abgesehen davon, daß hierbei — in durchaus differenzierender Betrachtung — auch Namen wie Nietzsche und Thomas Mann („Der Zauberberg“) in einer Zwischenpassage zitiert werden, geht es Hertling darum, „verblüffend enge Parallelen sowie einige grundsätzliche Differenzen“ (S. 42) zwischen „Stine“ und der „Zauberflöte“ zu verdeutlichen. Daß Hertling als Parallelen vor allem vergleichbare Figurenkonstellationen (drei weibliche, drei männliche Handlungsträger) und die Konfrontation von Harmonie und Konservatismus in den Vordergrund stellt und damit Anregung für eine noch genauere Analyse dieser Beziehungen gibt, verdient Aufmerksamkeit. Hier arbeitet Hertling mit subtiler
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