Textkenntnis. Fontane nutzt unseres Erachtens jene Konstellationen nicht, um Parallelen, sondern um Differenzen zwischen einstiger Humanismusidee und gegenwärtiger Realisierbarkeit dieser Idee zu zeigen. Und hier liegt wohl der Kern dessen, was zugleich zur Anerkennung der Fragestellung und zur Auseinandersetzung mit einer in dem Aufsatz sehr allgemeinmenschlich artikulierten Humanismusidee herausfordert, die sich doch mehr als sozialmoralische denn als sozialhistorische Sicht auf die Humanismusanliegen am Ausgang des 18. bzw. des 19. Jahrhunderts versteht. Mozarts „Zauberflöte“ konnte wegen ihrer zutiefst humanistischen, bürgerlich-emanzipatorischen Substanz zu einem der zeitgenössisch meist- inszenierten Musikbühnenwerke werden, weil Illusionen über die Möglichkeiten einer menschlicheren Ordnung unter bürgerlichem Vorzeichen noch bestanden. Diese Illusionen erweisen sich am Ende des 19. Jahrhunderts als irrtümlich. Fontane weiß das und gestaltet das, auch in „Stine“, aber nicht nur dort, und „entzaubert“ insofern nicht die „Zauberflöte“, sondern jene Illusionen angesichts der sozialen Probleme seiner Zeit, in der die Klassenwidersprüche eben härter sind als ein moralisch formulierter Menschlichkeitsanspruch. Während sich die Weisheitslehren Sarastros in der „Zauberflöte“ als Sieg des Humanen durchsetzen können, siegt die Weisheitslehre Haldern-Sarastros als Erkenntnis noch ausstehender „Regulierungszeiten“. So tauft schließlich der alte von Haldern eine auch von ihm erahnte, aber für den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft abgewiesene Veränderung des gesellschaftlichen Status quo. Das letztlich gebiert die tragische Lösung in „Stine“.
Auch Hertling sieht das, wenn er in „Stine“ die „Umkehrung der Zauber- flöten-Apotheose zur Fontaneschen Einsicht“ feststellt, „daß die menschlichen Werte der ,Alten Welt' in der Neuen ... keine Bleibe mehr haben“: der Sieg des Menschlichen bleibe aus (S. 70). Hier könnte sich die von Hertling aufgeworfene Fragestellung durchaus als Einstieg zum Werk Fontanes schlechthin erweisen. Vielleicht wären entsprechende Hinweise dieser Arbeit noch förderlich gewesen.
Die Forschung sollte sich der von Hertling aufgeworfenen Fragen durchaus annehmen. Im vorliegenden Fall wären Stimmen zum Mozart-Verhältnis Fontanes angemessen; darüber hinaus verweist der vorliegende Aufsatz auch darauf, das Werk Fontanes stärker im Schnittpunkt nicht-literarischer Traditionslinien zu sehen. Darauf aufmerksam gemacht zu haben sehen wir als ein Verdienst des Hertling-Aufsatzes.
Verchau, Ekkhard: Theodor Fontane. Individuum und Gesellschaft. Frankfurt/M. — Berlin — Wien (Ullstein Tb 4604): 1983 (310 S.)
[Rez. Bettina Plett, Köln]
Der vorliegende Band stellt eine Ergänzung der im Ullstein-Verlag erscheinenden Reihe „Fontane Bibliothek“ dar. „Sie ist die erste nicht!“ mag derjenige denken, der diese Fontane-Biographie zur Hand nimmt und
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