Heft 
(1984) 37
Seite
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dabei den nicht unerheblichen Anteil biographischer Veröffentlichungen an der Fontane-Forschung bedenkt. Die umfassende und obwohl inzwischen so mancher Ergänzungen und Korrekturen bedürftige wegen ihrer Materialfülle immer noch wertvolle und wichtige Arbeit Reuters, die 1968 erstmalig erschien, hat lange Zeit wie ein krönender Schlußstein gewirkt, der kaum einen zweiten neben sich duldet geschweige denn zu ersetzen wäre. Inzwischen ist dieses Werk nun fünfzehn Jahre alt, ebenso die reichbebilderte Kurzbiographie Nürnbergers (Theodor Fontane in Selbst­zeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1968). Sieht man hier einmal von Nürnbergers Studie über den frühen Fontane ab, die sich bewußt auf die Jahre 18401860 beschränkt und in vielerlei Hinsicht die Grenzen einer Biographie überschreitet, so sind alle anderen biographischen Skizzen, Portraits und Würdigungen älteren Datums. So rechtfertigt denn einerseits diese zeitliche Distanz, andererseits die Fortentwicklung der Forschung in den letzten eineinhalb Jahrzehnten einen neuen Zugriff.

Diese neue Fontane-Biographie hebt sich zunächst durch zwei Faktoren von den bisherigen einschlägigen Veröffentlichungen ab: sie entstammt der Feder eines Historikers, und sie vermeidet die BezeichnungBiographie im Untertitel, um bewußt das BegriffspaarIndividuum und Gesellschaft an ihre Stelle zu setzen. Nun ist diese Polarisierung bzw. Zusammenschau gewiß keine neue Fragestellung; man ist sogar versucht, sie angesichts der Themen und Schwerpunkte der jüngsten Fontane-Forschung als eine durchaus modische zu bezeichnen. Der polemischen Frage, ob denn das BegriffspaarIndividuum und Gesellschaft und die Gattungsbezeichnung Biographie nicht gleichsam Synonyma seien, ob also der Anspruch, die Biographie einer bedeutenden Persönlichkeit zu schreiben, nicht eo ipso auch die Aufgabe einschließe, die Zeitbedingtheit und Zeitverflechtung ihres Lebensweges aufzuzeigen, muß entgegengehalten werden, daß dies für die frühen biographischen Portraits, die einseitig Person und Persönlichkeit abbildeten oder einzelne Züge und Fakten zum Fundament einer ganzen Persönlichkeitseinschätzung erhoben (man denke etwa an die Überbewer­tung der Bedeutung der französischen Abstammung), keineswegs selbst­verständlich gilt.

Verchaus Absicht ist es,Fontane so darzustellen, wie er sich selbst, sein Werk, seine Mitmenschen und seine Mitwelt sah; dazu, wie die Mitmen­schen ihn sahen (S. 8); im Vordergrund steht immerdie Frage nach Dauer und Wandel seines Bildes von Mensch, Gesellschaft, Geschichte und Politik (S. 8). Es geht also primär nicht um den Dichter Fontane, sondern den kritischen Zeitgenossen, den Dichter in seiner Zeit und die Spiegelung der Zeit in seinen Selbstzeugnissen und Werken. Demgemäß wird der Leser auch gleich zu Anfang darauf hingewiesen, daß er nichtso etwas wie Strukturanalysen und Werkinterpretationen zu erwarten hat; ebenso wird auf eine ausführliche Auseinandersetzung mitThesen und Kontroversen der Forschung bewußt verzichtet (S. 9).

Verchau unterteilt seine Darstellung in vier große Hauptabschnitte, um auf diese Weisedie entscheidenden Wendepunkte des schriftstellerischen Schaffens (S. 8) hervorzuheben. Der erste Teil,Unscheinbare Anfänge? überschrieben, behandelt Herkunft, Elternhaus und Jugend, die Apotheker-

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