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kalligraphisch geschriebenen, aber durch die kreuz- und quergehenden Nachschriften oft schwer leserlichen Briefe zu antworten. Nicht Arbeit, nicht Alter, nicht Körperleiden konnten ihn von dieser Artigkeit zurückhalten; er nannte das seine Pflicht .. . Eigentlich hielt er das Schreiben dieser Briefe, die einmal ein wertvolles Denkmal sein werden (NB/die Hrsg.], für Schlauheit; in Wirklichkeit war es Herzensgüte.“ Vgl. Mauthners Beitrag ,Ein neues Totengespräch‘ im Berliner Tageblatt vom 26. 9. 1898 (Nr. 488), wiederabgedr. in Totengespräche (Berlin: K. Schnabel 1906), Kap. IX, S. 82-93.
Entgegen der Behauptung Mauthners in seinen Erinnerungen an Fontane aus dem Jahre 1920: „Unter den nahe an hundert Briefen, die ich von Fontane besitze, sind viele, die nur — oft in entzückender Form - Danksagungen für meine Aufsätze oder geliehene Bücher enthalten: erst die Briefe aus der allerletzten Zeit, da Fontane sich bereits den 80 näherte - zeigen schwarz auf weill. wieviel Vertrauen er mir entgegenbrachte.“ (S. l). Hieran anschließend sei auch noch vermerkt, daß scheinbar durch einen glücklichen Zufall fast nur Briefe von Substanz erhalten geblieben sind.
Zu den Vorteilen einer zusammenhängenden Dokumentation der Korrespondenz mit nur einem Briefpartner vgl. auch Charlotte Jolles’ Einleitung zu den Briefen Fontanes an Eduard Engel im JDSG 1984.
KOMMENTAR ZU DEN BRIEFEN IN ANMERKUNGEN
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Dieser Brief befindet sich im Besitz von Prof. S. Nissen (Hamburg).
Zur Entstehungsgeschichte von Irrungen, Wirrungen vgl. Jürgen Jahns Anmerkungen in Theodor Fontane. Romane und Erzählungen Bd. 5 (Berlin/Weimar: Aufbau 1969), S. 529-43 und Helmuth "Nürnbergers in Theodor Fontane. Werke, Schriften, Briefe. Abt. 2, Bd. 2, 2. Aufl. (München: Hanser 1973), S. 906-11; vgl. ferner FrederiCk Betz’ Kommentar in Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen (Erläuterungen und Dokumente, Kap. II) (Stuttgart: Reclam 1979), S. 64. Der Vorabdruck erfolgte in der Vossischen Zeitung zwischen dem 24. 7. 1887 und dem 23. 8. 1887; die Buchausgabe erschien Anfang Februar 1888 im Leipziger Verlag von F. W. Steffens, obwohl über das Zustandekommen dieser Edition wenig bekannt ist (vgl. Jahn, 541-42 und Betz, 64). In einem Brief an seinen Sohn Theodor vom 9. 5. 1888 (HA, II, Nr. 575, 603) teilt Fontane mit, daß Brahm. Schlenther, Max von Waldberg, Schiff und Mauthner „sämtlich sehr ausführlich und sehr anerkennend über ,Irrungen, Wirrungen' geschrieben [haben] . .. “; diese Rez. waren bis auf die von Schiff (vgl. dazu auch Fontanes Brief an Emil Schiff vom 15. 2. 1888 [HA, III, Nr. 561, 585-86]) und Mauthner bereits ermittelt worden (vgl. Betz, 90-98); hiermit wird nunmehr erstmals der volle Wortlaut der Mauthnerschen Rezension (die unter dem Titel .Eine Berliner Dorfgeschichte' in Die Nation 5 [1888], 23 [vom 3. 3. 1888], S. 323—24 erschienen ist) abgedruckt:
„Ich möchte damit beginnen, freudigen Herzens pater peccavl zu sagen. Ith habe Theodor Fontane stets für einen geistreichen und anregenden Plauderer, ja auch für einen Dichter von viel latenter Kraft gehalten, dabei aber doch auch für einen Sonderling, dessen Führung man sich nur anvertrauen kann, wenn einem Ziel und Weg gleichgültig ist. Und nun habe ich über ein Werk des beinahe siebzigjährigen Mannes zu berichten und muß gestehen, daß mir darin von einem Sonntagskinde wie im Traume gefunden scheint, wonach Weise und Thoren seit vielen Jahren suchten: eine richtige autochthone Berliner Erzählung.
Ich habe persönlich begonnen und möchte noch die persönliche Bemerkung hinzufügen, daß es mir schwer fällt, den Kranz in dem Wettbewerb einem Nebenbuhler zuzuerkennen, und noch dazu einem, der so spät aufgestanden ist, wie Theodor Fontane. Es müßte mir ja eigentlich lieber sein, wenn er sich als so unfähig erwiesen hätte, wie Hugo Lubliner. Aber da hilft nun nichts; ich habe „Irrungen, Wirrungen“ mit immer steigendem Entzücken zu Ende gelesen und muß das bekennen. Glücklicher Weise hat Fontane einige schlechte Gewohnheiten, die er ja wohl nicht mehr ablegen wird und die wir ihm darum recht ernsthaft Vorhalten können; und noch günstiger trifft es sich, daß seine Erzählung nicht genau unter den Begriff des Berliner Romans fällt. Sonst müßten wir am Ende unser Tintenfaß ausgießen.
Das litterarisChe Laster Fontane’s besteht darin, daß er nicht über seinen Schatten zu springen vermag, daß alle seine Personen von dem Bismarckfeindlichen Hochtory bis zur alten Wäscherin Fontane’sch reden d h scharf witzig beziehungsreich, aber so eigenartig, daß die Unterschiede des Charakters und der Lebensstellung ein wenig verwischt werden. Es ist aber gerade ein Zeichen außerordentlicher Begabung daß unter diesem gleichförmigen Redeton Jede Person dennoch mit großer Lebenswahrheit ihre eigene Weise singt.
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