Die Unterordnung unter einen feststehenden Romanbegriff ist bei Fontane darum so schwierig, weil einerseits die so beliebten Verwicklungen vollständig fehlen, andererseits das liebevoll ausgemalte Idyll, das heimliche Dasein der Leute, von denen Berlin nichts weiß und die nicht viel von Berlin wissen, fast das ganze Buch ausfüllt. So ist „Irrungen, Wirrungen“ im Grunde eine Berliner Dorfgeschichte, welche einen ganz neuen Stoffkreis für die Dichtkunst erobern könnte.
Der Berliner Roman ist von zwei Seiten her gepackt worden. Die ältere Schule, wie Gutzkow und Spielhagen, führte mit Vorliebe bedeutende Männer und Frauen vor, welche auf der geistigen Höhe des Dichters standen und darum berufen schienen, uns durch ihre Reden selbst dann noch zu fesseln, wenn ihre Abenteuer uns zeitweise zu Athem kommen ließen. Diesen groß angelegten Werken gegenüber erhebt sich unter westlichen und östlichen Einflüssen eine neuere Schule, deren Ideal es wohl ist, auch die Armen am Geiste, Durchschnittsmenschen und Leute aus dem Pöbel, kurz alle Welt, gleich charakteristisch zu Worte kommen zu lassen. Ein Dichter, der Hoch und Nieder schildern will, wird nun ohne viel Nachdenken auf den Einfall kommen, die sozialen Gegensätze durch ein Llebesverhältniß zu überbrücken. In den Kreisen, wo der Mensch beim Baron anfängt, fängt ja die Liebe nicht immer bei der Baronin an. So baute sich z. B. Paul Lindau seinen Roman „Arme Mädchen“ auf; und wenn er auch die Wirkung seiner ersten Erzählung [Der Zug nach dem Westen/die Hrsg.] bei weitem nicht erreichte, so fand er doch Gelegenheit, allerlei Berliner Menschen vom Kavallerieoffizier und reichen Berliner Kaufmannssohn bis zum heruntergekommenen Flickschneider und dessen hübschen Töchtern behaglich und lustig zu schildern, bis der unmögliche Schluß auch im Ende verstimmt. Wer aber aufmerksam liest, wird sich von Anfang an angefremdet fühlen durch die Leblosigkeit der Umgebung, in welcher die einfachen Leute leben. Lindau hat viel Kunst aufgewendet, um diesen Mangel zu verdecken. Er hat sich die Wohnstube eines kleinen Handwerkers angesehen und beschreibt sie gut und ausführlich; er läßt die Leute allerlei Redensarten gebrauchen, wie der schlichte Berliner sie liebt. Aber während er in seinem ersten Roman tout Berlin sich bewegen ließ, wie das reiche Berlin sich bewegt, treten die „Armen Mädchen“ und ihre Verwandten etwa so auf wie das Volk in unseren sogenannten Volksstücken. Der Schauplatz ist mit hundert Kleinigkeiten der Wirklichkeit möglichst ähnlich gemacht, es fehlt auch nicht an Berolinismen, aber man glaubt dem Dichter nicht, daß er das Leben seiner Gestalten gelebt hat.
Einen ganz ähnlichen Stoff behandelt Theodor Fontane in „Irrungen, Wirrungen“. Baron Botho hat ein Verhältniß mit Lene; draußen hinter dem Zoologischen vier Stock hohe Häuser den Schauplatz der Dorfgeschichte verdrängen. Kaum daß wir die geheimen Reize dieser leichten Liebschaft ergründet haben, ist sie auch schon zu Ende. Baron Botho verheirathet sich um des lieben Geldes willen mit der schönen und anmuthigen Käthe von So und So und gibt der treuen Lene den Abschied. Aber so nett seine Frau auch ist, ihr leeres Geschwätz läßt ihn niemals die einfachwahre Lene vergessen. Und Lene, welche nach Jahren in dem braven Fabrikmeister und Konventikler Gideon Franke ihren guten Gatten findet, wird wohl bis an ihr Lebensende die Küsse des geliebten Barons nicht vergessen. Man sieht, die Fabel ist einfach und alltäglich, daß sie uns aber als so alltäglich erzählt wird, das ist die Moral und der Humor davon. Der gebrechliche Zustand der Welt zwingt das Liebespaar auseinanderzugehen. Botho denkt nicht daran, das Wäschermädel zu heirathen und Lene weiß ganz gut, daß der Baron sie eines Tages verlassen wird. Die Liebe ist ganz aussichtslos und gerade dadurch wird dieser moderne Protest gegen die Konvenienzehe so schneidig. In „Kabale und Liebe“ wollen die Liebenden alle Schranken überschreiten und müssen darum sterben. Botho und Lene sind äußerst vernünftig und wollen ruhig weiterleben; aber Botho ist steinunglücklich in seiner zusam- mengeklügelten Ehe und die arme Frau des Gideon Franke wird es nicht verwinden, daß sie einmal ihren Baron gehabt hat, wie sie alle einmal so ein Verhältniß gehabt haben. Diese ernste, den Philister tief verletzende Symbolik der Erzählung hebt sie freilich mit einem Ruck aus dem Kreise einer nach Berlin verirrten Dorfgeschichte empor, und war die Handlung für einen Roman kaum reich genug, so ist die Fülle des Lebens für ein Epos nicht zu klein.
Was aber den Reiz des Buches ausmacht, das ist natürlich nicht die verborgene Symbolik, sondern die helle Schönheit der einzelnen Bilder und die unnachahmliche Charakteristik namentlich der zahlreichen Nebenpersonen. Auch da läßt Fontane nicht von seiner Art; bald vergißt er über einer Landschaftsschilderung seine Menschen, bald schildert er sie so Fontane’sch, daß der Leser die Menschen wieder über dem Erzähler vergißt. Aber wenn die einfachen Frauen in der Waschküche, oder die Offiziere in ihrem Klub einmal zu reden anfangen, so erweisen sie sich bald stärker als der Eigensinn ihres Dichters und stehen so
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