254 Aus Fontanes Brieten kann man wenig zusätzliche Information über Gustav Freytag (1816-1895) und sein Werk gewinnen. Fontane hat sowohl Freytags Romane als auch dessen Theaterstücke (vgl. Rupprecht Leppla: ,Th. Fontane als Kritiker der Theaterstücke Gustav Freytags' in Freytag Blätter 20 (1976). S. 50—59) rezensiert, jedoch nicht viel von dem Schriftsteller-Kollegen gehalten: im Deutschen Kunstblatt 2 [1855], 15, S. 59-63 (wiederabgedr. in NyA, XXI/1, S. 214—30) besprach er Freytags Roman Soll und Haben („kein geniales Produkt“; Brief an Theodor Storm vom 16. 6. 1855 [HA, I, Nr. 197, 404]); später rezensierte er Die Ahnen (VZ vom 14. 2. 1875 bzw. 21. 2. 1875; wiederabgedr. in NyA, XXI/1, S. 231-48), und 1881 unterzog er sich der Lektüre von Freytags Erzählung Aus einer kleinen Stadt (Abdruck der Tagebucheintragungen in NyA, XXI/1, S. 249); bereits in seiner Rez. der Ahnen hatte er den Freytagschen Stil kritisiert: „Freytag, statt in dem Leben seiner Geschöpfe aufzugehen und ihre Sprache zu sprechen, läßt sie die seinige sprechen. Nicht immer, aber vielfach; jedenfalls zu oft.“ (S. 248). In seinen Tagebuchaufzeichnungen von 1881 äußert sich Fontane gleichfalls wenig positiv über den Kollegen Freytag: dessen Novelle kam ihm „trocken und ledern“ vor und seine Werke — „mehr historische Konrektors- als Dichter-Arbeit“ — „prätensios und wenig angenehm“: „Allen fehlt die freudige Unbefangenheit, die Lust an der Sache selbst, alles ist herausgeklügelt und dient einem doktrinärem Zweck. Infolge davon pulst kein Leben in dem Buch.“
255 Fontane beschuldigt Freytag hier des Mangels an Direktheit, eine Anklage, die sich auch in anderen Entgegnungsschriften wiederflndet: der anonyme Preuße (vgl. Nr. 26, Anm. 268) z. B. moniert die Art. „wie er [Freytag/die Hrsg.] es geschrieben hat“ (S. 5), indem - bei der Zeichnung von Kronprinz Friedrich Wilhelms Charakterbild - „jeder Zug nach der Seite der Schwäche hin ausgemalt und ausgeführt ist“ (S. 6), daß die .Beilagen' überhaupt nichts zur Charakteristik beitragen (S. 25) und daß der zweite Teil der Broschüre insgesamt aus der Gegenwart heraus geschrieben und daher zur Beurteilung des Kronprinzen wertlos sei (S. 38); Arendt zielt im Grunde in die gleiche Richtung, wenn er schreibt, „daß die Sprache der Liebe und Verehrung gewählt ist, um oft giftige Pfeile um so sicherer anzubringen“ (S. 5) und daß der zweite Teil des Pamphlets der eigentlich verdammenswerte sei: „Es ist interessant wahrzunehmen, wie der ursprüngliche Text des Kriegstagebuches von Freytag überarbeitet ist und wie überall dort, wo der ursprüngliche Text blieb, wir uns der schönen, anmuthenden Schilderung erfreuen können, überall aber, wo wahrnehmbar der heutige Standpunkt Freytags zu Tage tritt, sich auch die Absicht verräth, die Dinge so zu gestalten, daß zwar in der äußeren Form nach, etwas Verletzendes nicht gesagt ist, in der Sache selbst aber die Verunglimpfung Friedrichs um so stärker sich gelten macht.“ (S. 12). (Laut Arendt tritt diese Darstellung am deutlichsten im zweiten Teil der Broschüre zu Tage (.Nach dem Kriege'), wo in einem grau in grau gemalten Bilde ..schonungslos die Entwicklung des Kronprinzen bis zu seinem Tode“ vorgeführt wird (S. 17); und in der Tat hätte hier wohl auch Fontanes Kritik angesetzt, da gerade der Anfang dieses Teils ein gutes Beispiel dafür bietet, wie Freytag den Kronprinzen einerseits als erprobten, festen Mann darstellt, als würdigen Nachfolger seines Vaters, dann aber plötzlich dazu übergeht, ihn als Opfer der neuen Zelt nach der Reichsgründung 1871 zu porträtieren, der der Errichtung des neuen Lebens „in thatlosem Harren“ (S. 67) zusah und bei dem eine „Leere, eine gewisse Ermüdung“ eintrat (S. 67-68), die immer größer wurde. An anderer Stelle wird dem Kronprinzen zwar bescheinigt, daß er Pflichttreue und Fleiß der Hohenzollern besessen habe, andererseits jedoch wird ihm Unternehmungsgeist und die Schaffensfreude abgesprochen, indem er als .bloßer' Protektor der Künste abgestempelt wird, der sich gelegentlich sogar mit Abdankungsgedanken trug (S. 72), wobei das negative Bild seinen Tiefpunkt in der Feststellung erreicht: ..Er begann an Geist und Leib zu altern, und schon lange bevor die furchtbare Krankheit an ihm zu Tage kam, durfte man trauernd sagen, daß sein Lebens- muth nicht mehr der eines Mannes war, welcher demnächst für seine Nation die Kaiserkrone tragen sollte.“ (S. 72-73). Ein weiterer Punkt spielt ebenfalls bei Fontane eine Rolle, nämlich die Tatsache, daß Freytag verheimlicht hat, „was Friedrich offenbar in längerer Aussprache hervorgehoben“, so daß Fontane sich — mit Mühlendorf (a. a. O.) und anderen Zeitgenossen — gefragt haben mag: „Ist es nicht in höchstem Maße ungerecht und willkürlich, wenn Freytag uns seine Ansicht ausführlich unterbreitet, die des Kronprinzen aber kaum erwähnt?!“ (S. 5). Folglich wird Fontanes Ausdruck, daß Freytag alles .um die Ecke sage' seine Erklärung finden in der lückenhaften, unsachgemäßen Berichterstattung“ (S. 5), die Freytag adoptierte. Freytag scheint diese Kritik geahnt zu haben und versucht, sich dagegen zu verwahren (wenngleich nicht öffentlich): „Noch immer beschäftigt die Schrift. Die treuen Deutschen sind in großer Zahl nicht zufrieden, daß ihnen das Idealbild, welches sie sich seit 20 Jahren von .unserem Fritz' gemacht hatten, zerstört worden ist. und sie sind geneigt, den Störenfried dafür verantwortlich zu machen. Daß ihr Bild unwahr und daß es
