Roland G. Berbig (Berlin)
Zwischen Bühnenwirksamkeit und Wahrheitsdarstellung. Aspekte zu zwei Theaterkritikern Berlins nach 1871 — Paul Lindau und Theodor Fontane.
Wenn Theodor Fontane in den Königlichen Schauspielen seinen durch ihn später berühmt gewordenen Parkettplatz Nr. 23 eingenommen hatte, dann nahm zur gleichen Zeit und zu gleichem Zwecke ein anderer Kritiker im Parkett Platz, dessen Berühmtheit die Fontanes in den siebziger und achtziger Jahren weit hinter sich ließ: Paul Lindau. Was für Fontane Broterwerb und stete Kunstschulung bedeutete, wurde für Lindau Sprungbrett zum Ruhm. Bereits vor lf)71 durch literarische Rücksichtslosigkeiten 1 bekannt (und gefürchtet) geworden, ließ sich Paul Lindau kurz nach Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches in dessen Hauptstadt nieder, um ein großangelegtes Zeitschriftenprojekt in die Tat umzusetzen. Am 19. Januar 1872 begrüßte die GEGENWART (Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben) ihre Leser, und ihr Redakteur, Paul Lindau, gab seinen Berliner Einstand als Theaterkritiker. Folgerichtig setzte Lindau auf den sich bereits abzeichnenden Erfolg scheinbar unbekümmert-spritziger Schreibweise — und zog in seiner Besprechung der theatralischen Ereignisse der letzten Woche allen Stücken deutscher Autoren einen Franzosen, Victorien Sardou, und dessen „Fernande“ vor. Mit nicht eben national tönendem Schwung erklärte Lindau dem Niveau deutscher Dramatik und Bühnenkunst den Krieg und spielte gleich in der ersten Nummer der frisch gegründeten Zeitschrift seinen Trumpf aus. Dieser Trumpf, gewonnen aus fünf Jahren Paris, in denen Lindau differenzierte Erfahrungen aus der Welt des Theaters und der Presse und deren Zusammenwirken gesammelt hatte, stach; er brachte Lindau mit einem Schlag ins öffentliche Gespräch und verlieh ihm bald den Status einer Autorität. In stark nationalistischen Zeiten — Berlin lebte noch im Rausch des großen deutschen Sieges gegen den „Erzfeind“ Frankreich — setzte Lindau auf das moderne französische Theater und verfocht eine Richtung, der es vornehmlich um Bühnenwirksamkeit ging! Eine erlebte Metropole — das Paris des Seconde Empire —, wo sich Theater und Theaterdichter an einem Ort konzentrierten, hatten in Lindau die Vorstellung und den Wunsch erweckt, in Deutschland unter nun so günstig scheinenden Vor. Zeichen Ähnliches zu verwirklichen. Theater muß wirken, der pointierte Effekt geht über ausgelotete Gedankentiefe — so die Devise. Die Mittel, mit denen Lindau dieser nachdrücklich angelegten Sichtweise zum Erfolg verhelfen wollte, waren bei einem kleineren Abonnentenkreis erprobt, und sie bewährten sich gleichermaßen vor dem großen: Witz, Esprit, Souveränität im geistreichen Plaudern und elegant-ungezwungenes Spiel mit Wissen und Wissenswertem.
Paul Schlenther erinnert in seinem Vorwort zur Sammelausgabe der Fontaneschen Rezensionen an die seinerzeit im Umlauf befindliche ironische Deutung von Fontanes Initialen „Th. F.“ als Theater-Fremdling.
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