Heft 
(1984) 38
Seite
586
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Diese zweite Anspielung, besonders unter solchen dramatischen und iro­nischen Umständen, scheint mir den Beweis der besonderen Bedeutung dieses Turner-Gemäldes zu liefern. Es ist auch ironisch, da man sich nicht vorstellen kann, daß Dubslav in die Hölle fährt, wogegen dieses Schicksal, wenn die Hölle existiert, Molchow, von der Nonne und ihresgleichen wohl beschieden sein könnte.

E. Sagarra hat Fontanes starkes Interesse an der christlich-sozialen Bewe­gung aufgezeigt, 11 deren wertvollste Züge in Lorenzen und in dessen Sorge um seine Mitmenschen dargestellt werden. Lorenzens Gravierung oder Aquatinta von RubensKreuzabnahme (V, 172 et passim) gehört auch zu den Gemälden mit augenscheinlich symbolischem und leitmotivischem Bezug, der darauf hinweist, daß Christus vom Kreuz ins wirkliche Leben abgenommen werden soll.

Lorenzen und Dubslav sind beidereinen Herzens, und Lorenzens ein­fache, aber packende Begräbnisrede wiederholt ein wichtiges leitmotivisches Thema des Romans: daß manHerz undLiebe besitzen soll. Lorenzen sagt:Das goldene Kalb anbeten war nicht seine Sache (V, 377):

... für die, die sein wahres Wesen kannten, war er kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz. Es war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem alles Beste um­schließenden Etwas, das Gesinnung heißt. Er war recht eigentlich frei... Er war die Güte selbst... Er hielt es mit den guten Werken und war recht eigentlich das, was wir überhaupt einen Christen nennen sollten. Denn er hatte die Liebe ... all das war sein: Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und die Lauterkeit des Herzens... (V, 377-8)

Diese Worte stellen eine Diesseitigkeit dar, die in RubensKreuzabnahme symbolisiert und durch christlich-soziale Werte bekräftigt wird. In seiner Diesseitigkeit und in seinem dichterischen Gebrauch von christlichen und biblischen Vorstellungen und Bildern ist Fontane mit Goethe zu ver­gleichen. 12

Der Skeptiker mag wohl bezweifeln, daß der Leser imstande ist. solche thematischen Anspielungen durch Bilder von Millais und Turner bewußt (oder auch unbewußt) aufzugreifen. Wir wissen aber, wieviel Vergnügen Thomas Mann daran fand, hintergründige Schlüssel in seine Werke zu pflanzen, die erst später von Philologen zutage gebracht wurden. 13 Fon­tane war in dieser wie in anderer Hinsicht ein spitzfindiger Vorläufer Manns. Es ist aber auch möglich, daß die Leser der neunziger Jahre besser imstande gewesen sind als spätere Lesergenerationen, bildhaften Anspielungen zu folgen. Durch Goethe und andere wissen wir vom stei­genden Sammlerinteresse an Gravierungen (manchmal koloriert, wie wir im Fall von LorenzensKreuzabnahme gesehen haben). Nicht nur der Besitz von Gravierungen war beliebt, sondern wohlhabende Bürger neigten auch zum Kauf gemalter Kopien von Meisterwerken was uns heute