andere, und der Mensch ist ungleich und das Herz auch und der Mut erst recht. Ich habe manches Mal auch feige gefühlt. Solange es geht, muß man Milde walten lassen, denn jeder kann sie brauchen. (60)
Audi Leopolds Morgenritt nach Treptow im 8. Kapitel läßt schon vor der Verlobung keine Hoffnung zu, denn diese Episode ist ein Musterbeispiel für eine in Fontanes Sinn symbolisch durchkomponierte Szene. Leopold wird darin durch seine Gesten und Handlungen und durch seine Umwelt so vollkommen als willensschwacher Mensch gespiegelt, daß der Leser eine psychologische Analyse der Gestalt gar nicht braucht. Sein Pferd zwingt ihn, Schritt zu gehen, „so sehr er sich wünschte, davonstürmen zu können“. Der Pferdejunge des Restaurants ist ein Krüppel, denn ihm fehlt ein Arm, und so verliert Leopolds Versuch, die Schande, bei den Gardedragonern „wegen zu flacher Brust nicht angenommen worden zu sein“ (93), durch einen zweistündigen täglichen Ritt wettzumachen, von vornherein an Überzeugungskraft. Er unterwirft sich beim Frühstück dem auf Jenny zurückgehenden Gebot des Kellners, der als Behütender wohl nicht umsonst Mützell heißt, nicht Kaffee, sondern Milch zu trinken, 12 steht also sogar unter dem Diktat seiner Mutter, wenn diese gar nicht da ist. Er träumt, Zeichen in den Sand malend, vor sich hin, was ihn mit dem ebenfalls Willensschwächen Waldemar von Haldem in Stine (13.86) verbindet. Er sieht voller Sehnsucht einem „mit großem Segel flußabwärts fahrenden Spreekahn“ (98) nach, was Corinnas früher geäußerte Hoffnung, ihn als „das aufzusetzende große Marssegel“ zu benutzen, „das bestimmt ist, mich bei gutem Wind an ferne, glückliche Küsten zu führen“ (55) als vergeblich erscheinen läßt. Zudem ist er in Treptow ausgeschlossen von der Gesellschaft, die in diesem Augenblick unter Musik auf einem Schilf die Spree entlang und ausgerechnet an der „Liebesinsel“ vorbeifährt. Statt mit Corinna in die Ferne zu segeln, wie sie es erträumt, reitet er beim Anblick des Dampfers nach Hause zurück, „um sich eine Reprimande“ für das Zuspätkommen zu „ersparen“ (99).
Eine Geste von Leopolds Ohnmacht und Nachgiebigkeit vor der Verlobung verbindet ihn dabei in dieser Szene mit Corinna in ihrer ganz ähnlichen Lage nach dem Abbruch der Verlobung. Es sind die frechen Spatzen, die ihnen ungeniert zu Leibe rücken. Von Leopold heißt es:
Er unterbrach sich, weil eben jetzt die sich um ihn her sammelnden Sperlinge mit jedem Augenblicke zudringlicher wurden. Einige kamen bis an den Tisch und mahnten ihn durch Picken und dreistes Ansehen, daß er ihnen noch immer ihr Frühstück schulde. Lächelnd zerbrach er ein Biskuit und warf ihnen die Stücke hin, mit denen zunächst die Sieger und, alsbald auch ihnen folgend, die anderen in die Lindenbäume zurückflogen. (99)
Ganz ähnlich geht es Corinna in der Küche:
In diesem Kasten standen mehrere Geranien- und Goldlacktöpfe, zwischen den hindurch die Sperlinge huschten und sich in großstädtischer Dreistigkeit auf den am Fenster stehenden Küchentisch setzten. Hier pichten sie vergnügt an allem herum, und niemand
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