Heft 
(1984) 38
Seite
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Lüge, und Jenny, wie so viele Gestalten in diesem Roman, blind für die eigenen Schwächen, aber mit wachem Sinn für die anderer, sagt denn auch auf Corinnas pathetischesAber meine Gefühle, gnädigste Frau ... ein schlichtesBah (159). Auch Marcell weiß:Alles ist Berechnung (77), und verwendet damit genau das Stichwort, das Treibei als Entschuldigung für seine Verirrung in die Politik benutzt hatte:Unsereins rechnet und rechnet...

Aber Treibeis Berechnungen werden falsch, wenn er sich aus seiner Bourgeoiswelt hinaus-, Corinnas, wenn sie sich in sie hineinbegibt. Beide mißbrauchen einen Bereich menschlichen Lebens, indem sie sein Eigenrecht dem bloßen Kalkül opfern. Treibei die Welt der gesellschaftlichen Ordnung und Corinna die der Gefühle. Sie ist bereit, diese ihrem Drang nach Geld zu opfern und dabei einen Schlappschwanz als Ehemann in Kauf zu nehmen. Erst Frau Schmolkes Erzählung von ihrer Ehe und ihre Botschaft Liebet euch untereinander (170) hat eine kathartische Wirkung und führt sie zur Umkehr von ,,meine[r] Verirrung (181).

Flau Schmolkes lange Ehegeschichte aber trägt noch auf eine weitere Weise zum Verständnis des Romans bei und muß einbezogen werden in die Analyse von Treibeis und Corinnas Fehlern.

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Ein letztes Mal wird das Motiv von Nelsons heldischem Namensvetter bei Corinnas Hochzeit verwendet. Wenn der Engländer zur Vermählung ein Telegramm mit dem berühmtesten Zitat des Admirals schickt,England expects that ever.v man will do his duty (185), dann bestätigt das, daß er selbst vielmehr das moderne bourgeoise England repräsentiert, denn er verwendet das urspiünglich soldatische Zitat in sexuellem Sinn. Es bildet aber ein offenbar bisher übersehenes Element der Darstellung des Besitz- büx-gertums in Fontanes Roman, daß die Weit des Geldes durchsetzt ist von erotischer Ani-üchigkeit. Die heute in der Kapitalismus-Diskussion so beliebte Formel von der Obszönität des Geldes ist, umgesetzt in Bild, Wort und Handlung, in Frau Jenny Treibei schon vorhanden. Das Haus Treibei ist getaucht in eine Atmosphäre sexueller Gewagtheiten.

Treibei und die Majorin Ziegenhals, in der man eine ehemalige Fürsten­geliebte vermutet und die man deshalb alsLady Milford (41) bezeichnet, streifen in ihren Gesprächen bei Tisch

allerlei Sittlichkeitsprobleme [...] zu deren Lösung er sich, als gebo­rener Berliner, besonders berufen fühlte. Die Majorin gab ihm dann einen Tipp mit dem Finger und flüsterte ihm etwas zu, das viexzig Jahre früher bedenklich gewesen wäre, jetzt aber [...] nur Heiter­keit weckte. Meist wai'en es harmlose Sentenzen aus Büchmann oder andere geflügelte Worte, denen erst der Ton, aber dieser oft sehr entschieden, den erotischen Charakter aufdrückte. (30) Tatsächlich sind für den heutigen Leser die sexuellen Anspielungen so harmlos, daß er sich fragt, warumdie Ziegenhals [...] Blicke mit Treibei (wechselte) (39). Kaum hat der Kommerzienrat sich mit Vogelsang nach

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