Heft 
(1984) 38
Seite
604
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keit beraubt, weil es in einen Lebenszusammenhang gestellt wird, in dem es seine laszive Attraktivität verliert. Was dann übrig bleibt, ist das all­tägliche Elend oder mindestens die Alltäglichkeit des Lebens weniger bevorzugter Menschen. Kein Wunder, daß ,.um Corinnas Mund [...] sich jeder Ausdruck von Spott (verlor) (134).

In solchen Details steckt Fontanes Gesellschaftskritik, die nie plakativ und direkt, aber in ihrer Subtilität nicht minder scharf ist. In solchen Details steckt seine Zeitanalyse, die das wahre Gesicht der Bourgeoisie hinter ihrer Maske von Wohlanständigkeit enthüllt.

Immer wieder wird in der Forschung auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Fontane mit der Vorveröffentlichung seiner Romane in den Familien­zeitschriften hatte, weil man sie für moralisch bedenklich hielt, und immer wieder klingt das so, als sei das Unverständnis der Zeit dem Schriftsteller gegenüber grenzenlos gewesen. Der Satz des Chefredakteurs der Vossischen Zeitung über Irrungen, Wirrungen, das im Vorabdruck immerhin recht provozierend mit dem UntertitelEine berliner Alltagsgeschichte erschien, Wird denn die gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?, 13 ist bekannt. Aber es scheint angebracht, auch einmal den umgekehrten Stand­punkt einzunehmen und zu fragen, ob nicht die Zeitgenossen aus ihrer Sicht durchaus recht hatten, wenn sie Fontane für frivol hielten. Von den vielen sexuellen Gewagtheiten im Dialog abgesehen, die nach den Vor­stellungen der Zeit eben nur an den Männerstammtisch gehörten, konnten sie etwa Stine oder Frau Jenny Treibei nur als beängstigend treffend und enthüllend empfinden und mit Abwehrmechanismen darauf reagieren. Was sie nicht erkannten, war, daß die Größe Fontanes als Romancier unter anderem darin besteht, daß er diese erotischen Elemente motivisch und funktional so in das Gewebe der Dichtung einarbeitete, daß sie zum Bedeutungsträger und damit für das Verständnis des Werkes unabdingbar werden konnten.

Darüber hinaus bildete Frau Schmolkes Ehebericht auch einen Gegensatz zu Jennys sentimentalem, aber haarsträubend heuchlerischem und von ihr selbst in der Praxis hintertriebenem Bekenntnis:

Ich höre so gerne von glücklichen Ehen, namentlich in der Ober­sphäre der Gesellschaft [. ..]. (26)

Jenny setzt dabei in ihrer Beschränktheit einfach voraus, daß gesellschaft­licher Rang unddas Höhere eins sind:

Meine Mutter f...] war immer für die besseren Klassen. Und das sollte jede Mutter, denn es ist bestimmend für unseren Lebensweg. Das Niedere kann dann nicht heran und bleibt hinter uns zurück. (29)

Bedenkt man, wie es in den Ehen in ihrer eigenen Familie zugeht, dann wird der Selbstbetrug darin klar. Nicht sie hört in Wirklichkeit von glücklichen Ehen, sondern Corinna, für die unmittelbar nach ihrer Ver­lobung die Erzählung der Schmolke ein belehrendes Beispiel ist, worauf es in der Ehe wirklich ankommt. Und so fährt Corinna auf ihrer Hoch­zeitsreise mit Marcell denn auchbis zum Grab der Julia (185), 14 wo die wahre Liebe zu Hause ist.