Heft 
(1984) 38
Seite
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Charlotte Jolles: Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesens­bestimmung Theodor Fontanes. Berlin und Weimar: Aufbau- Verlag 1983 (279 S.)

[Kez. Christa Schultze]

Mit Recht nennt G. Erler im Nachwort zu obigem Titel die hier einem breiteren Publikum vorgelegte, 1936 verfaßte Dissertation einwissen­schaftsgeschichtliches Dokument und ihren endlich erfolgten Druck einen Akt historischer Gerechtigkeit. Wir sind dankbar für die in diesem Zusammenhang dargebotenen Mitteilungen über den Lebens- und Schaffensweg der Autorin, deren Dissertation - Grundlage für alle wei­teren Forschungen über denjungen Fontane - unter dem NS-Regime nicht gedruckt werden konnte, und die ihre Heimatstadt Berlin verlassen und nach England emigrieren mußte.

Das ist Begründung für denverspäteten Druck; einer Rechtfertigung bedarf er nicht. Das Erscheinen des Buches werden nicht nur Forscher, die nun nicht mehr gezwungen sind, dem einzigen, in der Berliner Uni­versitätsbibliothek aufbewahrten Dissertationsexemplar mühselig nachzu­spüren, sondern alle an Fontane Interessierten freudig begrüßen. Rezensentin selbst verdankte (gleich vielen Anderen) vor Jahren der Dissertation Zugang zumjungen Fontane und findet sich heute von der unveränderten Aktualität des Textes überrascht und neu angeregt.

Der TitelFontane und die Politik läßt aufhorchen. Inwieweit war der große Romancier ein politischer Mensch? Sein größtes Engagement liegt in den Jugendjahren, im Vormärz und während, bzw. kurz nach der 48er Revolution. Wäre derreife Fontane, der mit seinem Romanschaffen sich bleibende Geltung verschaffte, zu denken ohne eine gelebte Jugend, die dazu noch in die bewegteste Zeit deutscher Geschichte im 19. Jahr­hundert fiel?Die bestimmenden Eindrücke von Fontanes Leben fallen in die Zeit bis 1860, heißt es bei Jolles, und so geht sie vor allemden An­fängen seines Berufs als freier Schriftsteller und dem Jahrzehnt im Dienst des preußischen Staats nach. Doch zunächst erleben wir, wie in der Lehrlingszeit in der Berliner Roseschen Apotheke 1836 bis 1840, als ein frischer politischer Wind zu wehen begann, sich bei dem Jüngling Stand­punkt und Einsichten zu gestalten beginnen. Wegen der immer noch unzulänglichen Quellenlage werden Forscher leicht verleitet, sich für Fontanes frühe Zeit an dessen eigene ErinnerungenVon Zwanzig bis Dreißig zu halten. Verfasserin weist des öfteren darauf hin, wie gefähr­lich eine unkritische und ungeprüfte Übernahme dieser im Rückblick des Greises getanen Schilderungen ist, deren Absicht eine korrekte Biographie nicht sein konnte. Dies gilt ganz besonders für die an die Berliner Lehr­jahre (nach einer kurzen Zwischenstation in Burg) sich anschließende Leipziger und Dresdener Zeit von September 1841 bis Juli 1843. Man kann Jolles Warnung nicht ernst genug nehmen, denn wie schnell gerät der Leser in den Sog der faszinierenden, humorvollen Plaudereien, bei denen jedoch vieles ausgelassen, manches wohl auch verdrängt oder absichtlich gekürzt und verfärbt worden ist.

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