Heft 
(1984) 38
Seite
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Jolles vermittelt dem Leser über die Erschließung neuer Quellen aus dem damals noch vorhandenen, heute zum großen Teil durch Kriegseinwirkung zerstörten Gesamtnachlaß, über die Darlegung neuer Fakten und das Nach­vollziehen biographischer Details hinaus das Verständnis für den kompli­zierten Entwicklungsgang des radikalen Demokraten der Jugendjahre zum Angestellten der preußischen monarchistischen Regierung von 1850 bis 1860. Unsicherheit und Ziellosigkeit seines Lebens überhaupt, das Bewußtsein, die ihm seit fünf Jahren anverlobte und damit anvertraute Braut, die kein festes Zuhause hatte, nicht länger auf die Heirat warten lassen zu dürfen, sind Ursache für Fontanes Eintritt in das Literarische Kabinett. Hier hatte er einer Politik zu dienen, die seinen Überzeugungen direkt zuwiderlief. Der innere Kampf, die Verzweiflung über sich selbst, über sein Handeln, das wirtschaftliche Not und Abhängigkeit ihm abverlangten, kommt in der Klage zum Ausdruck:Ich habe mich ... der Reaktion für monatlich 30 Silberlinge verkauft... Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen.

Die Erfüllung seines Wunsches, im Jahre 1852 im Auftrag der Regierung als Berichterstatter nach London zu gehen, kam daher einer Rettung gleich, wenn auch seine neue Tätigkeit ihn nicht vor manchem Zwiespalt be­wahrte. England war seit den Leipzig/Dresdener Tagen Ziel der Hoff­nungen Fontanes gewesen. Und gerade in den fünfziger Jahren, als in Preußen die Reaktion wie eine Totenstarre über Land und Menschen lag, in England aber alles Politik atmete, dienten die Englandaufenthalte (es folgten zwei weitere zwischen 1855 und 1858 zwecks Begründung einer deutsch-englischen Korrespondenz bzw. als Presseagent) der Schulung eines allseitigen politischen Verständnisses.Es war eine Schule im umfassendsten Sinne des Wortes: für den Menschen, den Politiker, den Dichter. Für dieses Jahrzehnt im Dienste der preußischen Regierung nutzte Jolles als erste die materialreichen Akten des ehemaligen preu­ßischen Staatsministeriums, die einen genauen Einblick in diesen Lebens­abschnitt Fontanes gestatteten; sie sind bis heute in Merseburg erhalten geblieben.

Die beiden Grundelemente englischen politischen Lebens: Freiheitsgefühl und Konservatismus, d. i. Vorwärtsdrängen und Bewahren-Wollen, sind im Denken des alten Fontane eine Synthese eingegangen.Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben, ist die Quintessenz, die in Fontanes bekenntnis- haftem AlterswerkDer Stechlin zum Ausdruck kommt.

In einem kurzenAusblick schlägt Jolles so die Brücke vom radikalen Jüngling, der sich 1842 mit englischer Arbeiterdichtung, mit englischem Parlamentarismus und Sozialismus beschäftigte, dessen Freiheitsideal ihn später nach der britischen Insel führte, zumalten Fontane , der eist in reifen Jahren als Mensch und als Dichter zur vollen Entfaltung gelangte. Das in späteren Jahren erneut aktivierte politische Bewußtsein Fontanes wäre ohne die Entwicklung des jungen nicht zu verstehen. Das Buch bildet als Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes (so der Untertitel) die Grundlage zum Verständnis des späteren Weges des Dichters, der zum

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