Fontanes“ von Katharina v. Faber-Castell. Es handelt sich um eine medizinisch fundierte Untersuchung, die aber über die Fachwissenschaft hinausreicht und Konsequenzen für die Literaturwissenschaft zuläßt, ja anbietet. Fontane ist nicht nur unter Fachaspekten gesehen, sondern auch als realistisches künstlerisches Phänomen. So sind der Untersuchung die berühmten Worte Heinrich Manns über die Bedeutung Fontanes als Gesellschaftsromancier vorangestellt, und so werden auch literaturwissenschaftliche Beiträge von Georg Lukacs und Walter Müller-Seidel über Fontanes Romankunst in angemessener Weise herangezogen.
Die Untersuchung folgt nicht chronologisch der Entwicklung Fontanes, sondern sie verfährt typisierend. Diese Methode ist sicherlich der Fachwissenschaft geschuldet, aber sie erweist sich in diesem Falle nicht als störend. Der Leser kann Rückschlüsse auf Fontanes Entwicklung leicht selbst ziehen.
Das erste Kapitel ist „Krankheit und Kränklichkeit“ überschrieben. Es zerfällt in die Abschnitte „.Konkrete* Krankheit und Kränklichkeit“. Mit „.konkreter* Krankheit“ ist zum Beispiel das altersbedingte Sterben des alten Stechlin gemeint, das aber zugleich Ausdruck des Endes einer Epoche ist. „Kränklichkeit“ ist Ausdruck von „Leiden an der Welt“, „Krankheits- geschichte als Zeitgeschichte“. Hier geht es vor allem um von den gesellschaftlichen Verhältnissen gebrochene Frauengestalten wie Cecile und Elfi Briest, aber auch um Hugo Großmann als Opfer „unerträglicher persönlicher und gesellschaftlicher Bedrückung“ (S. 87). Die .„konkrete* Krankheit“ ist medizinisch konkret behandelbar und zeitlich begrenzt. Die „Kränklichkeit“ ist ein schwerer faßbarer, letztlich gesellschaftlich determinierter und medizinisch kaum überwindbarer Zustand. Bei dieser Unterscheidung denkt man an Siegmund Freuds Gegenüberstellung von konkret verursachter Trauer und schwerer bestimmbarer Melancholie als Dauerstimmung.
Bei Elfi Briest wirke die Kränklichkeit ästhetisch organischer gestaltet als bei Cecile, bei der sie aufdringlich erscheine. Die Kränklichkeit Stines und Waldemar von Halderns wirke aufgesetzt. Mit diesen Nuancierungen beweist die Verfasserin ästhetische Sensibilität.
Von den Formen der „.konkreten* Krankheit“ und der „Kränklichkeit“ wird die Krankheit in „Ellernklipp“ und „Unterm Birnbaum“ als funktionales moralisches Handlungselement, als „Schuld“ und als „Sühne“ von Verbrechen abgesetzt. Diese didaktisch funktionalisierte Form der Krankheit begegnet uns also notwendig nicht in den besten Spätwerken des Dichters. Nirgends trete bei Fontane Krankheit zufällig auf. Es fänden sich jedoch nur selten exakte Beschreibungen von Krankheiten und eindeutige Diagnosen: „Die genaue Diagnosestellung spielt in Fontanes .Stechlin* ebenso wenig eine Rolle wie die medizinische Prognose“ (S. 18). „Über die Krankheit, die Effi sterben läßt, wird wenig Greifbares beriditet. Vieles deutet auf eine Lungenschwindsucht hin ... “ (S. 46). „Die Krankheit, die Hugo Großmann am Ende niederwirft, wird vage als Lungenentzündung, die in Form einer galoppierenden Schwindsucht verläuft, geschildert“ (S. 54). Das Krankheitsbild bleibt also, so paradox das klingt, im wesentlichen realistisch undeutlich, es wird nicht naturalistisch (klinisch) überdeutlich.
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