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gemüthlicher Scherz oder als Poesie bestehen', mitunter aber gilt von ihnen das Goethesche Wort:
Vernunft wird Unsinn,
Wohlthat Plage.
Schon sehr niedere Kulturstufen haben ihre Ueberlebsel, aus denen sich der Weg von der Wildheit bis zur Gesittung der Steinzeit erschließen läßt. Ein niedliches Beispiel erzählt einer der feinsten Völkerpsychvlogen unter den deutschen Reisenden.
Vn. Karl von den Steinen weilte eine Zeitlang bei einem gutbeanlagten Jndianerstamm am Schingn, einem Nebenflüsse des Ämazonenstroms. Zwei Tage hatte er Volt einer kleisterähnlichen Mehlmasse leben müssen, da brachte ihm der freundliche Dorfhäuptling ein Stück gerösteten Fisches. Es war recht stark geröstet, damit sich ein kräftiger Salzgeschmack entwickle —- denn bis zur Salzgewinnung hatten es jene Indianer noch nicht gebracht. Froh, endlich eine Abwechslung in den faden Kleistergeschmack zu erhalten, biß Herr von den Steinen sofort wacker in den Fisch hinein. Aber was geschah? Tiefbeschämt ob dem Betragen dieses Europäers hielten die Indianer die Hände vor die Augen und wandten sich ab. Obwohl sie gemeinschaftlich schon hausartige Wohnungen benutzen, gebietet es doch der Anstand bei ihnen, daß jeder Speisende sich in einen stillen Winkel zurückzieht, wo keines Menschen Auge auf ihn fällt.
Warum? Wenn der Hund einen Knochen findet, so verbirgt er sich mit seiner Mahlzeit, auf daß seine Mithunde sie ihm nicht abjagen. So war es einst auch bei den Menschen — und sobald die Kultur nicht vor schwerer Hungersnoth schützt, ist es häufig auch noch so. Ehe der Indianer die niedre Hohe der Steinzeitkultur erreicht hatte, da war es ein nothwendiges Gebot der Selbsterhaltung, allein zu essen. Die Erinnerung an den Gebrauch überlebte diese Periode der Wildheit und hielt sich als Anstandssitte — als guter Ton.
Auch bei uns erfordert der Anstand viele Handlungen, deren innerer Werth auch nicht um Haares Breite höher steht als die Schingn-Jndianersitte, allein zu essen. Der würdevolle Orientale hält es für höchst unschicklich, daß der Deutsche den Hut abnimmt, und zahlreiche Deutsche halten das ja jetzt auch für ungesund.
Der Hut selber ist ein Erzeugniß, das sehr alt in der Geschichte des Menschengeschlechtes ist, obwohl keines der ältesten. Bei der Sitte des Hntabnehmens, die in die früheste Zeit germanischer Kultur zurückreicht, kommt es übrigens nicht auf den Hut, sondern auf das Haar an. Die Könige, die Edlen und die Freien trugen den blonden Haarschmuck unverschnitten. Das Abscheeren des Haupthaares galt bei den Merowingern als Zeichen des Ausschlusses von der Thronfolge. Ein freier Mann mnßte das Haar nur in einem einzigen Falle abscheeren, nämlich wenn er sich von einem anderen Freien als Sohn annehmen ließ. Er stellte sich dadurch sinnbildlich auf die Stufe des neugeborenen Kindes, das ja auch nur mit kurzem Haar das Licht der Welt erblickt. So geschah es mit Karl Martell, den sein Vater Pippin durch diesen Akt von dem Langobardenkönig Luitprand adoptiren ließ.
Das Abschneiden des Haares bedeutet seit der ältesten Zeit Verstoßung in den Stand der Knechtschaft. Noch der Sachsenspiegel l. 37. Z 1 kennt die Bestimmung „äis ir 111 oder laut und llam ledsZst, dis 5in1 alle reolillos" — „die ihr Leben oder Haut und Haar ledigen (d. h. durch Erlegung der Buße den Strafvollzug abwenden), die sind alle rechtlos."
Der deutsche Hutabnehmer sollte also den kurzgeschorenen Kopf als Zeichen der Unfreiheit Zeigen. Die Sitte des Abscheerens der Haare war also selber wieder ein Sinnbild und gehört somit in eine Reihe mit allen anderen Verstümmelungen von Sklaven oder Religionsgenossen, welche das Recht eines Herren über Leben und Tod andenten.
In jedem Falle, sei der Herr als Mensch oder als Gott gedacht, liegt in der Verstümmelung ein symbolisches Menschenopfer vor. Der Herr nimmt nur einen kleinen Theil des Opfers an und begnügt sich mit dem frommen Willen oder der Arbeitskraft des Geopferten.
Mit diesem Religions- oder Rechtsgedanken schreiten wir aber zurück in eine ganz barbarische Urzeit. Zum Begriff des Opfers gehört es, daß der Empfänger von dein Opfer körperlich genießt. Wir kommen also herunter zu einem Zeitalter menschenfressender Götter und Menschen, wenn wir der Sitte des Hntabnehmens bis auf die letzte Wurzel folgen.
Wie hier eine harmlose Sitte unserer Tage durch die Sklaverei zur Menschenfresserei zurückgeführt hat, so lassen sich umgekehrt auch vom Kannibalismus wieder Entwicklungsgänge bis zu uns herunterführen, die oft thöricht erscheinen, bisweilen aber geradezu grausig sind. Nicht der Hunger, sondern die mystische Vorstellung von der Seele hat den Wilden zu dieser schrecklichsten aller Verirrungen geführt. Der Wilde, der zwischen wachen Vorstellungen, Träumen und Einbildungen nicht zu unterscheiden vermag, denkt sich die ganze Welt mit Seelen bevölkert, die zwar nicht immer greifbar oder sichtbar, stets aber stofflicher Art sind. Die Seelen wohnen an der Begrübnißstätte und fordern Speise und Trank. Blut gehört zu ihrem Verlangen, wie denn auch der göttliche Dulder Odysseus die Seelen im Hades Opferblut trinken läßt. Ist der Erschlagene nicht bestattet, so irrt seine Seele blut- und rachedürstend in der Luft umher, sobald der Körper zerfällt. Sie wendet ihren Zorn gegen den Mörder. Wie kann dieser sich nun besser schützen, als wenn er den Erschlagenen verschlingt? Die blutdürstige Seele müßte dann ja von ihrem eigenen Blute trinken, wenn sie Rache nehmen wollte. Der Wilde bemerkt, daß die Nahrung kräftigt. Da er aber von den chemischen Gesetzen der Verdauung keinen Begriff hat, so glaubt er, die „Seele" des Genossenen gehe auf ihn über. Stanley erzählt von einem Negerstamm, der sich das Herz eines gelieferten Ochsen zurückerbat in dem Glauben, er würde durch den Genuß des Herzens die Stärke und den Muth des Rindes erlangen, während Stanley und seine Leute durch das Essen des herzlosen Thieres muthlos und kraftlos werden mühten — beiläufig bemerkt, eine Anschauung, auf die unser sogenanntes „Iägerrecht", welches.dem Jäger, nicht dem Jagdherrn, die inneren Theile des erlegten Wildes zuerkennt, zurückzuführen ist. Das Herz galt oft als Sitz der Seele. Da sich aber die Seele nicht greifen ließ, so verallgemeinerte man ihren Sitz und schrieb mystisch jedem Theile des erschlagenen Menschen oder Thieres die Vollkraft der Seele zu, besonders aber dem Blute. Daher das mosaische Gebot, welches den Genuß des Thieres in seinem Blute, viehische Verwilderung befürchtend, untersagt.
Ans diesen Anschauungen heraus entwickelte sich der vielgestaltige Aberglaube und die Zauberei, die mit Theilen des menschlichen Körpers bei allen Völkern der Erde und auch bei uns noch heute getrieben wird. Gehalten und gekräftigt hat sich dieser Aberglaube durch die unleugbaren Beeinflussungen des einen Menschen durch den anderer!, wie sie beim Massiren und Hyynoti- siren zu beobachten sind und von Völkern sehr niederer Kultur beobachtet werden. Die „Seele" muß das Unerklärte mystisch faßbar machen. Die Seele des Verstorbenen durchdringt mit dein Schweiß und der Ausdünstung ererbte Gegenstände, mit denen der Verstorbene in näherer Berührung stand, wie z. B. Erbbibel, Erbsieb, Erbschlüssel und Erbhemden. Sie ist es, die, richtig befragt, zukunftdeutende Antwort giebt. Vor allem aber lebt sie in dem Blute der Geopferten — und das sind ursprünglich die Menschenopfer und nach der roh religiösen Volksanschaunng noch heute die Hingerichteten Verbrecher. Als im Jahre 1770 die Mörderin Göttrichs zu Neubrandenburg hingerichtet und ihr Körper lange Zeit auf dem Rade liegen geblieben war, entdeckte man, daß ihr ein Fuß fehlte. Es ergab sich, daß er gestohlen war, um Pferde damit zu heilen. Die Hingerichtete sollte also nach ihrem Tode mystisch weiter wirken, sie war durch das Opfer geheiligt. Selbst bei Leuten, die auf Bildung Anspruch machten, herrschte die Vorstellung, daß eben die Hinrichtung ein Opfer sei. „Die Blutschuld ist von Land, von Stadt und von dem Hause, worin die Mordthat geschehen, abgewendet, der Fluch ist entwichen, der göttliche Zorn hat sich gelegt" predigte damals der Pastor Jacobi genau in dem Sinne des alten Heidenthums, den Akt einer grausamen weltlichen Gerechtigkeit als Sühnopfer hinstellend. Also wird es erklärlich, daß in Hanau 1861 viele Menschen aufs Schaffot stürzten und von dem rauchenden Blute eines Raubmörders tranken, und daß 1861 die Scharfrichtergehilfen in Berlin ganze Massen von weißen Taschentüchern in das Blut eines Gerichteten tauchten und das Stüch zu zwei Thalern verkaufen konnten. Eine Handlung wirklicher Menschenfresserei beging 1888 der Arbeiter Bliefernicht ans Sage in Oldenburg in dem Glauben, wer von dem Fleische junger unschuldiger Mädchen äße, könne ungestraft thnn und lassen, was er wolle.
Der letzte Grund dieser schaurigen Entartungen geht ans eine rohe, ganz materialistische Anschauung von der Seele zurück. Ans den Tagen der Wildheit hat sie sich hinübergelebt durch das