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alles und jedes theilten, gab ihrem engen Verkehr einen eigenen Reiz, eine immer neue Frische. —
Heute schien Annie nicht geneigt, zu theilen, und das machte Thekla traurig. Es gab ja so vieles, was Annie genoß und was die ältere Schwester nur vom Hörensagen kannte: Bälle und Damenkaffees, Eislauf und Waldpartien, Reitfeste und Spazierfahrten. Auf alles dies hatte sie von jeher verzichten müssen, und es hatte Zeiten gegeben, da auch die „gelehrte" Thekla Gerold, die Philosophin, heimlich bittere Thränen vergossen und eine brennende Sehnsucht empfunden hatte nach jenen Freuden, die sie nie genießen sollte.
Nun, das war freilich lange her, sie hatte es seitdem gelernt, ihre Bücher als ihre vertrautesten Freunde zu lieben, denen sie zahllose schöne und erhebende Stunden verdankte; jetzt begehrte sie für sich selbst nichts mehr von Lebensfreude und Genuß. Aber für Annie, die das Dasein eines wirklichen jungen Mädchens führte, umschwärmt und gefeiert und dennoch gegen Verflachung und hohles Scheinwesen geschützt — da erwartete und verlangte sie viel, und oft hatte sie in der Stille gesonnen, wie wohl der Mann beschaffen sein müsse, den sie — Thekla — ihres Lieblings für Werth halten würde. Ach, ihre sorgende mütterliche Liebe würde ihn ja nicht aussuchen können, aber sie konnte warnen, zu- oder abreden, loben und tadeln . . . Annie war ja so lieb, so kindlich, unterwarf sich so gern dem Urtheilsspruch ihrer klugen Thea! —
, Konnte der schräg in ihr Zimmer fallende Lichtstreifen sie blenden? Was war es, das ihre Augen feucht werden ließ?
st Jetzt erlosch das Licht nebenan, tiefe Finsterniß umfing sie. Wer nnn schlafen, könnte, fest und traumlos! Das junge Geschöpf nebenan würde es können — welches Bild es doch mit hinübernehmen mochte in seinen sanften Schlummer? Die Schwester wußte es nicht, sie war ja ausgeschlossen — heute zum ersten Male! — Vier Uhr! Die tiefe, dröhnende Stimme vom Sankt Lukasthurm war Theklas älteste Freundin, die hatte dem kranken Kinde schon vor langen, langen Jahren den Weg durch die endlosen Nächte gewiesen. Sie hatte sich seitdem üben können im Wachen und Leiden; die gleichmäßigen Athemzüge, die aus dem benachbarten Zimmer kamen, hatten sie zuweilen eingewiegt — wer konnte sagen, wie lange sie dieselben noch hören würde?
Ein leichtes Rascheln nebenan — Theklas' scharfes Ohr unterschied einen leisen Fußtritt, der sich näherte — dann eine flüsternde Stimme: „Thea, bist Du noch wach?"
„Ja, Vögelchen! Warum schläfst Du nicht?"
^ „Ich kann nicht! Es kommt mir so unrecht vor, wie ich heut' zu Dir gewesen bin! Dir nicht auch?" Hier tastete eine suchende Hand über Theklas Bett, und zwei weiche Arme legten sich gleich darauf im Dunkel der Nacht um Theklas Nacken. „Ich Hab' Dir ja immer und immer alles gesagt, und ich will es auch heute — wenn ich nur wüßte" — ein tiefer, be-. klommener Seufzer hob die junge Brust — „wie ich Dir sagen soll, was ich selbst nicht recht verstehe. Gut, daß es Wenigsteils dunkel ist — im Geist seh' ich ohnehin deutlich genug, wie Du mich fragst mit Deinen großen, allwissenden Augen. So wie jetzt ist mir noch nie zumuthe gewesen — traurig und auch wieder glücklich dabei - - und so, wie mir heute ein einziger gefallen hat . . . ach Gott, was ich rede! ,Gefallen' ist gar nicht das Wort dafür! Weißt Du, wie Werther sich darüber aufregt, als ihn jemand fragt, ob ihm Lotte .gefiele'! Thekla — Du denkst jetzt gewiß, es ist dieser schöne Prediger, der mich so beschäftigt —"
„Nein, mein Kind, das denke ich nicht!"
„Wie klug bist Du doch, und wie genau kennst Du mich!
Sieh, daß ich dem Prediger sehr gefiel, das merkte ich gleich,
freute mich auch darüber, denn er hat mir einen bedeutenden Eindruck gemacht. Ob ich dem — dem — andern gefiel, das weiß ich eigentlich gar nicht" — wieder ein langer Seufzer — „er sah so finster und verschlossen aus, da that er mir leid und ich dachte: ob der wohl lachen kann? Ob du ihn wohl zum
Aufthauen bringst? War das unrecht, Thea? Ich wollte ja
nichts Schlimmes, dachte noch nichts werter, nur, ob es mir gelingen könnte, ihn heiter zu machen. Ich denke, das war nicht kokett — nein, Thea?"
„Ich meine nein, Annie!"
„Und es gelang mir so gut! Du hättest es nur sehen sollen! Ein ganz anderer Mensch ist er geworden — und was er mir alles erzählt hat! Aber das will noch nichts sagen ... die andern Herren werden uns alle Besuch machen, Thea, in den nächsten Tagen, und er hat kein Wort davon gesagt. Nun bekommen wir ja auch Frühling, und dann geht er gewiß wieder auf Reisen, und es kann sein, daß man sich nicht wiedersieht. Ja — das wollt' ich Dir gern noch sagen, Thea! Bist Du noch böse?"
„Böse bin ich überhaupt nicht gewesen, Kleine!"
„Aber enttäuscht und betrübt?"
„Das muß ich zugeben!"
Annies Lippen fanden im Finstern der Schwester Gesicht und Preßten sich ungestüm dagegen.
„Mein Närrchen, mein liebes! Nun ist alles, alles wieder gut, ich weiß in Dir Bescheid, das ist die Hauptsache! Warten wir alles weitere ab! Mit dem Nimmerwiedersehen wird es ja wohl so schlimm nicht sein, wenn jemand in derselben Stadt an der Akademie eine Professur hat und man einander zehnmal im Monat in denselben Kreisen begegnen kann."
„O nein, er sagt, er besucht gar keine Gesellschaften!"
„Nun, er hat doch die heutige besucht."
„Ja — das war eine Ausnahme."
„Solche Ausnahmen werden des öfteren Vorkommen — vielleicht bekomme ich diesen Vogel Phönix dann auch noch einmal zu sehen!"
„Siehst Du, Thea, das ist schlecht von Dir! Jetzt machst Du Dich lustig über mich!"
„Wahrhaftig'nicht, Liebchen!"
„Und ein Vogel Phönix ist er durchaus nicht! Ich Hab' es so im Gefühl, Dir würde er gar nicht gefallen!"
„So? Das sollte mir leid thun!"
„Viel eher Conventins! Der ist ganz ein Mann sür Dich!"
„Vielen Dank! Wir werden ja sehen! Aber jetzt rasch ins Bett, Kind, oder ich mache Dir eine Scene!"
„Und Du hast mich wieder lieb?"
„Am liebsten von allen Menschen — ist Dir das genug, Du anspruchsvolle, verzogene Prinzessin?"
„Ja, gerade genug, Thea! Gute Nacht! Ach, wenn Du doch schlafen könntest!"
„Ich glaube, ich kann Dir, zum ersten Male in Deinem Leben, diesen Wunsch zurückgeben!"
„Ach, wenn ich auch nicht schlafen kann! Ich habe soviel zu denken!"
Damit huschte es wieder auf lautlosen Füßchen davon, und Thekla wandte zufrieden ihr Haupt nach der andern Seite. Gottlob, „ihr Kind" gehörte ihr noch!! —
(Fortsetzung folgt.)
Die Hstjaken?
Von Alfred Edmund Brelmr.
Alle Rechte Vorbehalten.
seicht und mühelos ist gegenwärtig und wohl noch auf Jahr- Hunderte hinaus der Kampf ums Dasein, welchen der Mensch in Sibirien zu bestehen hat, leicht und mühelos namentlich in den von der Natur überreich begabten Gefilden im Süden des Landes,-nicht -allzuhart und. schwer^-aber auch in. jenen Gegenden, welche wir als eine eisige Wüste, als unwirthliche Einöde zu be
trachten gewohnt sind. Wohl tritt im hohen Norden Westsibiriens das Klima dem Menschelt rauh und streng entgegen; wohl weigert sich hier die in geringer Tiefe unter ihrer Oberfläche für ewig erstarrte Erde, nährende Frucht zu bringen, aber auch hier schüttet die Natur, gütig .ihr „Füllhorn, ans, und was - das Land versagt, gewährt das Wasser. In unseren Augen mag der in jenen
* Aus dem im Verlage der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart soeben in Lieferungen erscheinenden Buche „Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vortrüge von 1)r. A. (L. Brehm. Mit Illustrationen von R. Friese, (Ä. Mützel, Fr. Specht u. a."