Heft 
(1890) 38
Seite
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Am Abend desselben Tages begab sich Tromholt, den diese Mittheilungen tief erregten und beschäftigten, zur Ablösung seiner schweren Gedanken in ein Weinhaus, wo er Freunde zu treffen und das er häufiger zu besuchen Pflegte; gegen elf Uhr kehrte er nach Hause zurück.

Er fand die Mädchen nicht mehr vor, in Jngeborgs Zimmer aber war Licht, und er nahm deshalb an, daß die Wärterin bei der Kranken wackle.

Wiederholt betrat er das Speisezimmer, an das zur Linken im gleichen Flügel Jngeborgs Wohn- und Schlafzimmer stießen, und horchte, ob sich nebenan etwas rühre. Dann begab er sich in seine zur Rechten belegenen eigenen Räume, ließ aber absicht­lich die Thür nach dem Speisezimmer offen, um für den Nothfall bei der Hand zu sein.

Da feine Gedanken noch allzu lebendig waren, entzündete er

!Ntoch einmal innigsten Dank für alles, alles Gute! Kein ^ Mensch, ein Gott waren Sie für die arme Jngeborg. Dieses i hier Briefe von Dina Erwins, lesen Sie sie werden Ihnen ! das Glück bringen, ich weiß es, das Sie bisher entbehrten, und I dieser Gedanke erleichtert mir den Tod. Leben Sie wohl, mein ! einziger unvergleichlicher Freund!" Und von neuem schlossen sich i ihre Lider wie todt siel sie zurück.

IMein Kind, mein armes, liebes Mädchen!" rief Tromholt in ungeheurem Seelenschmerz. Er hoffte, daß vielleicht doch unr­eine neue Ohnmacht sie überfallen habe, und suchte sie höher auf­zurichten. Als aber alle Versuche, sie ins Leben zurückzurufen, ohne Erfolg blieben, da ließ er Jngeborg sanft zurückgleiten und eilte ins Schlafgemach. Er fand hier zu seiner Neberraschung keine Wärterin, sondern Hansine, die in einem Stuhl eingeschlafeu war und erst bei wiederholtem Rütteln zu sich kam.

Merkwürdiger Aass.

Zeichnung von Franz O'Stückenberg.

eine Lampe und ließ sich in einem Lehnstuhl nieder. Er nahm eine Zeitung zur Hand und vertiefte sich in ihren Inhalt; endlich aber übersiel ihn doch die Müdigkeit, und zwar solchergestalt, daß er in dem Sessel fest einschlief.

Wohl eine Stunde mochte er so geruht haben, als er plötzlich durch ein Geräusch aufgeweckt ward. Rasch sprang er empor, rieb sich die Augen und schaute um sich. Seine Blicke richteten sich unwillkürlich auf das Speisegemach, woher das Geräusch ge­kommen war, und da sah er zu seinem Schrecken ja, es war keine Täuschung aus dem Dunkel hervorschimmernd eine weiße Gestalt auf der Erde liegen.

Im Nu ergriff er die Lampe und eilte hinein.

Vor ihm, nahe dem Speisetisch neben einem Stuhl, lag lang ausgestreckt Jngeborg Elbe. Offenbar hatte sie sich mit einer be­stimmten Absicht von ihrem Lager erhoben und war hier, von Schwäche überwältigt, zusammengesunken.

Tromholt ließ sich zunächst, ohne nach der Wärterin zu rufen, zu ihr herab, hob und stützte sie und horchte voll Sorge und Unruhe nach dem Schlage ihres Herzens. Noch schien ge­ringes Leben in ihr zu sein, und wirklich öffnete sie in diesem Augenblick die Lider, sah ihn mit tiefen und angstvoll flehenden Blicken an und flüsterte seinen Namen. Während er gütig und zärtlich auf sie einsprach, drückte sie ihm ein kleines Packet in die Hand und flüsterte mit sterbender Stimme:

XXXVIII. Nr. 38.

Aber als Tromholt mit ihr zurückkehrte, war alles vorüber.

Tromholt und Hansine hoben die Entschlafene empor, betteten sie auf ihr Lager und stellten brennende Kerzen ringsum. Nach­dem das alles geschehen, hieß der Mann die Magd sich ent­fernen. Er aber saß bis zum Morgengrauen bei der Entschlafenen, und ruhelos irrten die Gedanken durch sein sorgenschweres Haupt. Er dachte, was ihm Jngeborg Elbe gewesen war, wie sie an ihm bis zum letzten Athemzug in treuer, aufopfernder Liebe gehangen hatte, und es ergriff ihn ein bitteres Gefühl der Trauer darüber, daß es ihm nicht gegeben war, diese Liebe so zu erwidern, wie sie es verdient hätte.

Seltsames Geschick! Für sie, deren stumme Qual er täglich mit ansah, die ihm mit ihrer ganzen Seele ergeben war, konnte er nichts anderes als Gefühle warmer Freundschaft finden, während sein Herz mit allen Fasern an der hing, die ihn nicht lieben konnte, die ihn verschmäht hatte. Nun fiel sein Blick auf das Packet Briefe, das er noch immer in der Hand hielt, Jnge­borgs letztes Vermächtniß au ihn. Was mochtet! sie enthalten? Mechanisch griff er einen aus dem Bündel heraus und las, erst nur mit halbem Verstündniß und dann mit wachsendem Interesse, während ein Zug tiefster Rührung über sein Gesicht flog. Der Brief lautete: Meine einzige Jngeborg!

Draußen scheint die Sonne so warm und herrlich, als ob ihr vom Schöpfer eine Belohnung für regen Diensteifer ausgesetzt

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