Illustriertes Familienblatt. - Begründet v°n Ernst Keit 1853 .
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(12. Fortsetzllng.)
Sonnenwende.
Roman von Mclvie Kevnlzcrvd.
Nachdruck verboten. Alle Rechte Vorbehalten.
im Geroldschen Hause jubelte man nicht über Annies Verlobung. Was hatte man sich früher für Gedanken darüber gemacht, wen „das Vögelchen" sich zum Gatten aussuchen würde! Wie er aussehen — was er sein — wie er sein würde— wie alles kommen müßte — und wie wundervoll es sein sollte, wieder einmal einen „Herrn" ins Haus zu bekommen — natürlich einen so gütigen, liebevollen und klugen, wie des Vögelchens Vater gewesen war — und wie sie dann alle zusammen die Kleine verwöhnen und lieben und untereinander so recht, recht glücklich sein wollten!
So hatten Agathe und Lamprecht, die ja fast schon zur Familie zählten, gedacht — und ähnlich hatte auch Thekla empfunden . . . nun war alles gekommen, rasch und unerwartet — aber so ganz anders! Gegen den Bräutigam und seine Stellung und sein Aussehen war nichts einzuwenden — er war ja ein stattlicher, vornehmer Mann, ein berühmter Künstler, der sich schon ein schönes Vermögen erworben hatte und soviel Geld verdienen konnte, wie er nur wollte — aber vou einer Zusammengehörigkeit, wie man ne bei Gerolds geträumt, von einem schönen, vertraulichen Verkehr war keine Rede. das ließ sich jetzt schon sagen, obgleich die Brautschaft eben erst angefangen hatte.
Nicht daß Professor Delmont unliebenswürdig gewesen wäre oder es an Höflichkeit hätte fehlen lassen! Er küßte beim Kommen und Gehen regelmäßig Thekla Gerolds Hand, versäumte nie, nach ihrem Befinden zu fragen, schob ihren Rollstuhl, wohin sie ihn zu haben wünschte, und brachte ihr eine herrliche große Photographie seines Gemäldes „Der Engel des Herrn" — ein Geschenk, das seinen Eindruck nicht verfehlte. Thekla wurde nicht müde, das schöne Gesicht mit dem trauervollen Blick, der alles umfaßte und alles verzieh, anzusehen — es war auch jetzt noch von ergreifender Wirkung,' trotzdem der Zauber der Farbe fehlte. Ein Verhältniß aber wie zwischen Bruder und Schwester — und so hatte Thekla mit dem einstigen 47
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Gatten ihres „Kindes" zu Verkehren gehofft! — wollte sich nicht anbahnen und — das fühlte sie deutlich — würde sich auch nie gestalten, selbst wenn Jahre darüber hingingen. Für Agathe vollends und deren schüchterne Annäherungsversuche, ihre kleinen Erzählungen von ihrer verstorbenen Herrin und wie ähnlich ihr das Vögelchen sehe, und wie sie — Agathe — beide „Kinder", ihre Ellinor und ihre Annie, auf dem Arm getragen und gewartet — für all das hatte der Bräutigam nur ein zerstreutes Lächeln oder ein kurz abfertigendes Wort, er beachtete auch den alten Lamprecht so gut wie gar nicht, der doch als ehemaliges Reitpferd und geduldiger Spielkamerad des Kindes ebenfalls Anspruch auf einige Rücksicht zu haben glaubte.
Für Delmont gab es nur ein einziges Wesen auf der ganzen Welt —- Annie! Es gab nur ein Gefühl für ihn — seine Liebe zu ihr! In ihr ging er auf, in ihr lebte er, jedes fremde Element, sollte cs auch früher noch so untrennbar zu seiner Geliebten gehört haben, war ihm störend. Sie für ihn und er für sie — alles andere konnte fortbleiben; so faßte er die. Lage auf und danach benahm er sich. Annie kannte es jetzt schon ganz genau, das unwillige Stirurunzelu, sobald die Thür sich öffnete und jemand kam, mochte es auch Thekla, mochte es auch Hedwig Weyland oder sonst eine liebe, nahestehende Persönlichkeit sein! Ihm war sie nicht lieb, ihm stand sie nicht nahe, er wollte seine Braut für sich allein haben — mochten doch die Leute bleiben, wo es ihnen gefiel! Seine Stimme, sein Blick, sein Benehmen, alles war wie verwandelt, sobald ein dritter sich zu ihm und Annie gesellte, und wenn sie ihn schüchtern bat: „Sei doch gut, Karl -— mir zuliebe!" dann küßte er leidenschaftlich ihre Hände und murmelte: „Ich kann nicht—-ich kann nicht! Sie sollen Dich mir lassen — mir ganz allein! Sie haben ja viele andere noch . . . ich habe nichts als Dich allein!" — Ein aufmerksamer Bräutigam war er freilich! In der Frühe schon erschienen die köstlichsten Blumen, von ihm selbst geordnet,