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im Laufe der Jahre eine große Anzahl von Substanzen darauf geprüft, welchen Einfluß sie auf die in Reinkulturen gezüchteten Tuberkelbacillen ausübten. Es habe sich ergeben, daß gar nicht wenige Stoffe imstande sind, schon in sehr geringer Menge das Wachsthum jener Mikrobien zu verhindern. Alle diese Substanzen blieben aber vollkommen wirkungslos, wenn sie an tuberkulösen Thieren versucht wurden. Trotz dieser Mißerfolge habe er sich von dem Suchen nach entwicklungshemmenden Mitteln nicht ab- schrecken lassen und habe schließlich Substanzen getroffen, welche nicht allein im Reagensglase, sondern auch im Thierkörper das Wachsthum der Tuberkelbacillen aufzuhalten vermöchten. Diese Versuche, welche ihn bereits fast ein Jahr beschäftigten, seien noch nicht abgeschlossen, er könne über dieselben daher nur so viel mittheilen, daß Meerschweinchen, die bekanntlich für Tuberkulose außerordentlich empfänglich seien, wenn man sie der Wirkung einer solchen Substanz aussetze, auf eine Impfung mit tuberkulösem Gifte nicht mehr reagiren, und daß bei Meerschweinchen, welche schon in hohem Grade an allgemeiner Tuberkulose erkrankt seien, der Krankheitsprozeß vollkommen zum Stillstand gebracht werden könne, ohne daß der Körper von dem Mittel etwa anderweitig nachtheilig beeinflußt würde.
Redner schließt mit folgenden Worten: „Sollten die im weiteren an diese Versuche sich knüpfenden Hoffnungen in Erfüllung gehen, und sollte es gelingen, zunächst bei einer bakteriellen Infektionskrankheit des mikroskopischen, aber bis dahin übermächtigen Feindes im menschlichen Körper selbst Herr zu werden, dann wird man auch, wie ich nicht zweifle, sehr bald bei anderen Krankheiten das gleiche erreichen. Es eröffnet sich damit ein vielverheißendes Arbeitsfeld mit Aufgaben, welche Werth sind, den Gegenstand eines internationalen Wettstreites der edelsten Art zu bilden. Schon jetzt die Anregung zu diesen Versuchen nach dieser Richtung zu geben, war einzig und allein der Grund, daß ich, von meiner sonstigen Gewohnheit abweichend, über noch nicht abgeschlossene Versuche eine Mittheilung gemacht habe."
Den Eindruck dieser Rede zu schildern, ist eine schwierige Aufgabe. Es war, als ob eine Bombe in die Versammlung eingeschlagen hätte, so erregt, ja verblüfft schauten alle Teilnehmer drein. Man hatte einen interessanten wissenschaftlichen Vortrag erwartet und stand nun auf einmal vor geheimnißvolleu Er- 'öffnungen und Andeutungen, welche Aussichten von unendlicher Tiefe und Weite eröffneten, Aussichten auf künftige Heilerfolge, wie sie die kühnsten Träume nicht hatten vorgaukeln können. Diese Rede Kochs war das Ereigniß des Tages, beherrschte die Ge- müther während des ganzen Kongresses fast ausschließlich, ließ allen übrigen noch so hervorragenden Vorgängen der glänzenden Vereinigung nur ein untergeordnetes Interesse abgewinnen. Denn darüber war alle Welt sich klar, wenn ein so vorsichtiger Forscher wie Koch sich in der Weise mit einer gewissen Zuversichtlichkeit aussprach, so mußte er in seinen glücklichen Ergebnissen schon weit gelangt sein. Politische wie Fachzeitungen bemächtigten sich eifrigst des Themas, und durch manche wenn auch unbestimmte Nachrichten, daß der große Forscher seine Versuche jetzt auch an Menschen anstelle, wurde die Spannung in der ganzen Welt aufs höchste gesteigert. Bald kamen nun auch mehr oder weniger authentische Berichte über Behandlung Tuberkulöser durch Koch in Krankenhäusern und Privatkliniken, dann schilderten Zeitungen aus Frankfurt a. M. die Erfolge der Therapie bei I^npn8 (fressender Flechte), ein Leiden, das als Hauttuberkulose aufzufassen ist und bei dem auch die specifischen Tuberkelbacillen nachgewiesen sind. Man erfuhr, daß das Verfahren darin besteht, eine kleine Menge einer bestimmten Flüssigkeit den Patienten unter die Haut zu injicieren, daß schon nach einer einzigen Einspritzung oftmals eine heilende Wirkung zu beobachten sei. Mit fieberhafter Ungeduld wartete alles auf einen darauf bezüglichen Vortrag Kochs, den er, wie behauptet wurde, in einer der nächsten Sitzungen der großen „Berliner medizinischen Gesellschaft" Zu halten gesonnen sei — da Plötzlich erschien am 1Z. November eine Extraausgabe der „Deutschen medizinischen Wochenschrift" und brachte als ersten Artikel: „Weitere Mittheilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose. Von Professor R. Koch, Berlin."
Im Eingänge der Arbeit sagt der Verfasser, er habe mit seiner Veröffentlichung eigentlich bis zum vollen Abschlüsse der Untersuchungen warten wollen, allein es sei trotz aller Vorsichls- maßregeln schon so viel davon, und Zwar in entstellter und über
triebener Weise in die Oeffentlichkeit gedrungen, daß ihm eine orientierende Uebersicht über den augenblicklichen Stand der Sache schon jetzt geboten erscheine. Ueber die Herkunft des Mittels könne er, da die Arbeit noch nicht abgeschlossen, hier noch keine Angaben machen, sondern behalte sich solche für eine spätere Zeit vor. Das Mittel besteht aus einer bräunlichen klaren Flüssigkeit, die zum Gebrauch mehr oder weniger verdünnt werden muß; vom Magen aus wirkt es nicht, sondern nur als Einspritzung unter die Haut; die geeignetsten Einstichstellen sind die Rückeuhaut zwischen den Schulterblättern und die Lendengegend. Eigenthümlicherweise erwies sich der Mensch außerordentlich viel empfindlicher für die Wirkung des Mittels als das Meerschweinchen, mit dem bisher experimentiert worden war; schon von der Menge, welche bei letzterem noch keine merkliche Wirkung hervorbriugt, ist für den Menschen sehr stark wirkend.* Die untere Grenze der Wirkung des Mittels liegt für den gesunden Menschen ungefähr bei 0,01 Irena; die auf diese Dosis folgende Reaktion besteht meistens nur in leichten Gliederschmerzen und bald vorübergehender Mattigkeit, während nach größeren Gaben heftiger Schüttelfrost mit Erbrechen und hoher Körpertemperatur eintritt. Die wichtigste Eigenschaft des Mittels ist seine specifische Wirkung auf tuberkulöse Prozesse, welcher Art sie auch sein mögen. Der gesunde wie auch der nicht tuberkulöse kranke Mensch reagiert auf eine Injektion von 0,01 üein gar nicht oder unbedeutend, bei Tuberkulösen dagegen tritt auf dieselbe Dosis sowohl eine starke allgemeine, als auch eine örtliche Reaktion ein. Die allgemeine Reaktion besteht in einem Fieberanfall, welcher, meistens mit Schüttelfrost beginnend, die Körpertemperatur über 39 o, oft bis 40 und selbst 41" steigert; daneben bestehen Gliederschmerzen, Hustenreiz, große Mattigkeit, öfters Uebelkeit und Erbrechen. Der Anfall, von dem die Kranken auffallend wenig angegriffen werden, beginnt in der Regel 4—5 Stunden nach der Injektion und dauert 12—15 Stunden.
Die örtliche Reaktion kann am besten an solchen Kranken beobachtet werden, deren tuberkulöses Leiden sichtbar zu Tage liegt, wie z. B. bei den an fressender Flechte (I^upu8) Leidenden. Einige Stunden nach der Injektion beginnt eine Schwellung und Röthung der lupösen Stellen, die allmählich einen ganz bedeutenden Grad erreichen, sodaß das kranke Gewebe stellenweise abstirbt. Nach 2—3 Tagen ist die Schwellung in der Regel verschwunden, die Lupusherde selbst haben sich mit Krusten von aussickernder und an der Luft vertrockneter Flüssigkeit bedeckt, sie verwandeln sich in Borken, welche nach 2—3 Wochen abfallen und mitunter schon nach einmaliger Injektion des Mittels eine glatte rothe Narbe hinterlaffen. Gewöhnlich bedarf es aber zur völligen Heilung mehrerer Einspritzungen. Die angegebenen Veränderungen beschränken sich durchaus auf die lupös erkrankten Hautstellen, die gesunde Haut wird nicht afficiert.
Die geschilderten Reaktionserscheinungen sind, wenn irgend ein tuberkulöser Prozeß im Körper vorhanden war, auf die Dosis von 0,01 üein in den bisherigen Versuchen ausnahmslos einaetreten, sodaß das Mittel in Zukunft ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erkennung der Krankheit bilden wird. Man wird damit imstande sein, zweifelhafte Fälle von beginnender Schwindsucht selbst dann noch zu erkennen, wenn es nicht gelingt, durch irgend welche andere Untersuchungen eine sichere Auskunft über die Natur des Leidens zu erhalten.
Die wichtigste Bedeutung des Mittels aber ist seine Heilwirkung. Nach der subcutanen Jnjection wird das Lupusgewebe, wie wir oben beschrieben, mehr oder weniger zerstört und verschwindet. In welcher Weise dieser Vorgang sich vollzieht, läßt sich augenblicklich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, nur so viel steht fest, daß es sich nicht um eine Abtödtung der im Gewebe befindlichen Tuberkelbacillen handelt, sondern daß nur das Gewebe, welches die Bacillen entschließt, von der Wirkung des Mittels getroffen wird. Zur richtigen Ausnutzung der Heilwirkung des Mittels muß also zunächst das noch lebende tuberkulöse Gewebe zum Absterben gebracht und dann alles aufgeboten werden, um das todte sobald als möglich, z. B. durch chirurgische Nachhilfe, zu entfernen. Da aber, wo dies nicht möglich ist und nur durch
* Auf Körpergewicht berechnet ist Hgy von der Menge, welche beim Meerschweinchen noch keine merkliche Wirkung hervorbringt, für den Menschen sehr stark wirkend.