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Häuser, ganze Straßen und Orte starben ans, und niemand wagte, dem andern zu Hilfe zu kommen. Endlich ließ die Seuche nach, und wenige Gesundgebliebene gingen von Haus zu Haus und warfen Erbsen an die Fenster. Tönte dann von drinnen eine Antwort, so war noch Leben im Hause; wo nicht, so war alles ausgestorben. Später klopften sie dann an die Fensterläden, nnd> ein „Vergelt's Gott" lohnte ihnen. Zun: Andenken an diese Menschenfreunde feiert man angeblich alljährlich die Klöpflinstage, Klopfnächte, Anklopfete oder Boselnächte (von boslen ----- lärmen, toben). Unter diesem Namen versteht man die drei beziehentlich vier Adventsdonnerstage, deren letzter auch der Losenpfinztag, d. h. der Loosdonnerstag, heißt, und ganz Süddeutschland kennt sie.
Der Sagenforscher aber weiß eine bessere Deutung. Der Brauch hat nichts mit der Pest zu thun. Das Anklopfen an die Fensterläden ist der letzte Rest toller Umzüge, die dereinst üblich waren und die jedenfalls die Umzüge der Götter in der heiligen Zeit der Wintersonnenwende nachbilden sollten. An einigen Stellen haben sich dieselben auch wirklich noch erhalten. In der Umgegend von Meran besuchen sich an den Klöpfel- abenden gute Bekannte und ergötzen sich wacker an Brot, Wurst, Wein und Obst. In Marienthal ziehen noch jetzt die Burschen herum und singen: „Heut' ist die heil'ge Klöpfelnacht,
Wo man Nudel und Küchel bacht,
Nudel heraus, Küchel heraus,
Oder wir schlagen ein Loch ins Haus!"
Das Prachtstück der Klöpflinsnächte aber ist der Anklöpselesel in Piller- see. Zwei kräftige Burschen nehmen ein Lattengerüst auf die Schultern; es ist durch eine Decke verhüllt und ein Sattel liegt darauf. Kopf und Oberkörper sind unsichtbar und nur die vier Beine des neuentstandenen Thieres kann man sehen, das durch einen ausgestellten Eselskopf noch vervollständigt wird. Ein lustiger Reiter schwingt sich auf den Rücken des Esels; nebenher geht würdigen Schrittes der „Eigenthümer" nebst dem Fuhrmann, und Zigeuner, Landstreicher, Hexen, Zillerthaler, Oelträger, Quacksalber und ein Thierarzt bilden sein Gefolge. Gemessen bewegt sich der Zug durch das Dorf. Hier und da wird dem Esel eine Krippe mit Wasser zum Saufen hingesetzt, aber stolzen Sinnes verschmäht er den Gänsewein.
Jetzt geht's in die Bauernstuben. Kaum ist man in das Zimmer eingetreten, das dicht mit Zuschauern gefüllt ist , so wird der Esel krank, er fällt auf die Kniee und ist durch nichts zu bewegen, wieder aufzustehen. Wasser und Heu mag er nicht. Er „hat" kläglich. Der Eigenthümer prügelt den Fuhrmann, weil dieser den Esel habe krank werden lassen, und der Fuhrmann wendet sich an den Quacksalber. Aber die Kuren verschlimmern nur die Krankheit: der Esel legt sich ganz hin und streckt alle Viere von sich. Jetzt greift der Thierarzt ein. Eine Wurst — und der Esel erholt sich zusehends. Eine Flasche Schnaps — und er ist bereits wieder auf den Knieen angelangt. Eine zweite Flasche, und er ist wieder ganz gesund, so daß er in seine beiden lebendigen Hälften getheilt an dem nun folgenden Mahle theilnehmen kann. Die dabei geführten Gespräche sind typisch und wiederholen sich jedes Jahr. Aber eins wechselt, und das sind die Scherze und Hänseleien, welche eingeflochten werden und an denen fast alle Anwesenden zu schlucken Haben.
Der Zähtkommissar im Kinterhause. (Mit Abbildung S. 813.) Es ist keine Kleinigkeit, Millionen zu zählen. Ein zungenfertiger Mensch kann bei deutlicher Aussprache der Zahlen in einer Minute etwa bis 200 gelangen. Er braucht also, um eine Million zu zählen, rund 5000 Minuten oder 83^3 Stunden oder 8 volle Arbeitstage. Wollte er bis zur Höhe der letzten Bevölkerungszahl des Deutschen Reiches mit rund 47 Millionen weiterzählen, so müßte er sich schon 3916^/Z Stunden bemühen, er würde also schon in einem ganzen Jahre nicht mehr fertig. Und nun sollen an: 1. Dezember d. I. diese 47 Millionen sammt dem Zuwachs seit 1885 nicht bloß gezählt, sondern auch ausgeschrieben, nach Namen, Stand, Religion und allerlei anderen Gesichtspunkten bestimmt und verzeichnet werden — welch eine Riesenarbeit! Kein Wunder, daß, um diese Millionenzählung zu bewältigen, fast wieder Millionen von Zählern erforderlich sind!
Die Beamten, die sonst wohl mit der Bevölkerungsstatistik beschäftigt sind, reichen natürlich bei der alle fünf Jahre wiederkehrenden allgemeinen Volkszählung lange nicht aus, und so ist es üblich geworden, in allen größeren Gemeinden freiwillige Hilfskräfte heranznziehen, Leute, die womöglich über freie Zeit verfügen,, die vermöge ihrer Bildung dazu befähigt find, den Zweck der Zählung richtig zu verstehen, die Formulare richtig anzuwenden und die richtigen Fragen, zu stellen. Denn es. ist gar nicht immer so leicht, den Zählkommissar zu spielen. Er hat mit gar viel Unklarheit, Unverstand, ja nicht selten geradezu mit. bösem Willen zu kämpfen; wenn so ein gut gekleideter, „herrisch" aussehender Eindringling in die Hinterhäuser und in die Dachstuben.kommt, zu den Armen und Gedrückten, da begegnet er oft dem bittersten Argwohn. „S' ist ja doch bloß wieder wegen der Steuer" denkt der und jener und es bedarf umständlichen Zuredens und Beschwichtigens, bis endlich die nöthigen Angaben zögernd und vorsichtig gemacht werden.
Nun, so gefährlich steht es nicht in dem Hinterhause, in welches unsere Skizze uns einen Blick thun läßt. Hier ist der selbstlose Herr, der sich als Zählkommissar hergegeben hat, lediglich Gegenstand einer kindlichen Neugierde. Ja, fast will es scheinen, als ob der Herr Kommissar seine Arbeit in diesen: Falle ganz interessant fände, als ob er sich gar nicht übermäßig beeilte, mit feinem Auftrag zu Ende zu kommen, und recht gerne die liebliche junge Frau weiter examinirte, die, ihr Jüngstes auf dem Arme, ihn: kurz und sachlich Auskunft giebt. Er ist wohl noch nie mit den Menschen dieser Volksschichte in Berührung gekommen, kennt sie nur von: Hörensagen und hat sich kein besonders günstiges Bild von ihnen gemacht. Nun ist er eingetreten in diese bei aller Enge doch saubere Stube, sieht das trauliche Zusammenleben der drei Generationen, bemerkt mit Freuden die manierlich erzogenen Kinder und bewundert den ruhigen Anstand der jungen Mutter — und für seinen ausgefüllten Fragebogen, für seine Zahlen und Vermerke, die er mitnimmt, hat er etwas zurückgelassen in dem schlichten Hinterhäüse — ein Vorurtheil.
Weue ^orzellanmakvortagen. Wir haben in Nr. 18 d. Jahrg. Gelegenheit genommen, unseren Leserinnen zwei Vorlagenhefte für Porzellanmalerei von Göppinger (München, Fr. Bassermannsche Verlagshandlung) zn empfehlen. Heute nun, wo das ganze Werk in 4Liefcrungen vorliegt, kommen wir gern auf dies höchst zeitgemäße Unternehmen zurück. Was bisher der Privatfleiß mühsam in Gewerbemuseen und Sammlungen aufsuchen mußte, die echten Muster der alten Porzellanmalerei, das wird hier als systematisches Ganzes geboten. Da sind die Blumenstücke von Sevres, Meißen und Frankenthal, für Schüsseln und Platten berechnet, die zierlichen Streublümchen in bunt und einfarbig, ein wahrer Reichthum der verschiedensten Bouquets und Ranken. Neu hinzu kommen jetzt in den soeben ausgegebenen Heften: kleine Vögelgruppen, Blumen und Infekten in Gold- cartouchen, dann allerliebste kleine Landschäftchen für Dosendeckel und figürliche Darstellungen nach alten Meißner Tassen und Platten. Eine ausführliche Anweisung für den Gebrauch der Porzellanfarben und die Farbenmischung für das Brennen macht es auch der ungeübteren Hand möglich, sich einzuarbeiten und bald erfreuliche Erfolge zu erlangen.
Wir wüßten kaum einen andern Zweig weiblicher Kunstfertigkeit, der so lohnend wäre wie das Porzellanmalen. Bisher fehlte es freilich sehr an guten Mustern: aber nun ist diesem Uebelftande auf wirklich ausgezeichnete Weise abgeholfen. Die Ausstattung des eleganten Mäppchens inacht es zu einen: sehr reizender: Weihnachtsgeschenk. Außerdem aber hat die Berlagshandlung die dankenswerthe Einrichtung getroffen, daß alle Blätter zu billigem Preise einzeln zu kaufen sind. Wir wollen sie hiermit allen Freunden der Porzellanmalerei aufs beste empfohlen haben!
Are letzte Zuflucht. (Zn dem Bilde S. 817.) Ein Theaterbrand! — Seit dem entsetzlichen Unglück vom 8. Dezember 1881, da das Wiener Ringtheater in Flammen aufging, zittert die Welt noch bei dem Worte „Theaterbrand!" Und es giebt in der That nichts Schrecklicheres. Ein leiser, verdächtiger, brandiger Geruch — ein Schreckensruf: „Feuer!" — und in weniger: Minuten, Sekunden ein flammen- und qualmerfülltes Haus, eine Stätte namenlosen Wirrsals und lähmender Todesangst! Und es ist nicht bloß die äußere Lebensgefahr an sich, die das Entsetzen weckt, auch wenn man sich nur in Gedanken eine solche Katastrophe ausmalt. Es ist noch mehr fast der schneidende Gegensatz zwischen zwei Augenblicken, die so nahe beieinander liegen wie der ein- und ausgehende Athen:. Eben noch fröhliche Lust, heiterer Flitter, Glanz und Freude — jetzt markerschütterndes Nothgeschrei, zertretene Menschenleiber, Tod und Grab — eben noch sorgloses Genießen — jetzt der Kampf um die Selbsterhaltung in seiner grassesten Gestalt! Dqs ist es, was auf das menschliche Empfinden so tief erschütternd wirkt, was aber auch einem Theaterbrand eine Art von fürchterlicher Romantik verleiht.
Auch unser Bild stellt einen Akt ans einem solchen grauenvollen Drama dar. Drei Mädchen, Darstellerinnen von koketten Operettenrollen, haben sich durch eine schmale Fensterluke auf den obersten Dachfims des brennenden Theaters gerettet. Sie waren eben in der Garderobe mit dem Umkleiden beschäftigt, als das verheerende Feuer losbrach, und mit den: Instinkt der Todesangst haben sie, nur nothdürftig bekleidet, diese letzte Zuflucht gefunden. Da schweben sie zwischen Himmel und Erde, von den: rasenden Elemente umdroht, das unter ihnen zu dem hohen Bogenfenster herauszüngelt und bereits den Holzrahmen des Fensters ergriffen hat, das ihnen eben noch den Weg ins Freie gebahnt und sie vor dem Tode des Erstickens behütet hat. Schon ist eine von ihnen ohnmächtig zurückgesunken, aber die gellenden Nothrufe der andern sind nicht nngehört verhallt. Von zwei Seiten, von unten her auf der Leiter und um die Ecke des Daches, nahen die braven Feuerwehrleute — die Retter. Und das mildert den schreckensvollen Anblick der Scene, wir wissen, daß nur noch wenige Sekunden vergehen werden und die verzweifelnden Geschöpfe fühlen sich von starkem Arm ergriffen und sicheren Tritts Sprosse für Sprosse hinabgetragen auf die rettende Erde.
Am Wondenschein. (Zu dem Bilde S. 809.) Wer hat ihn nicht empfunden, den wunderbaren Zauber der Sage vom Lurleifelsen, den Heine in sein unsterbliches Lied „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" gebannt hat. Wer vermag es, ohne ahnungsvolle Schauer auf den Fluthen des.Rheinstroms vorbeizufahren an dem trutzigen Fels, auf dem die Phantasie ihm die schönste Jungfrau im goldenen Haare erscheinen läßt. Ist es ein Wunder, daß ein solch mächtiger Quell überwältigender Poesie sich vor allem dem Dichter erschließt, dem Dichter, der berufen ist, die schlummernde Märchenprinzesfin, die Sage, zu blühendem Leben zn wecken, und dem Künstler, der die Kraft in sich hat, ihre Gestalt in sichtbarer Leibhaftigkeit vor das Auge zu rücken?
So haben denn auch ein Dichter und ein Künstler zujammengewirkt, ein Werk zu schaffen, das den vollen Reiz der Lurleisage über uns auS- gießt. Zu der Dichtung „Lurlei" von Julius Wolfs hat Wilhelm Kray einen Cyklus von zwölf Bildern geschaffen, die in einer Prachtausgabe bei Franz Hanfstängl Kunstverlag A.-G., München, erschienen sind.
Freilich hat Kray seine Arbeit nicht selbst zu Ende führen dürfen: er ist darüber gestorben, und es blieb die verantwortungsvolle Aufgabe L. W. Heupels, das Begonnene im Sinne des Meisters zu vollenden. Daß es ihm gelungen ist, zeigt das fertige Werk, aus dem wir unfern Lesern eine Probe vorlegen.
Im schwanken Kahne beim Vollmondschein hat der junge Graf Lothar die. zauberhafte Maid Lurlei gefunden nnd ihre Liebe gewonnen. Voll Hingebung spricht sie die Worte:
„Das hütt' ich nicht geglaubt,
Daß Liebe so beglücken,
So selig machen kann,
Und Sinn und Verstand berücken,
Du einzig lieber Mann!"
Aber der wankelmüthige Graf verläßt sie schnöde, und nun kehrt sie zurück, vor: wo sie gekommen, in die Tiefe des Rheins zu ihrer Mutter Jgorne, und Rache „an ihm und allem.ohne Wahl, was Mann heißt in der Sonne Strahl" ist fortan ihre Losung.