Heft 
(1906) 03
Seite
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Polen einst und jetzt.

Von Professor vr. F. Rach fahl.

icht viele Staaten gab es zuur Ausgange des Mittelalters, die über ein so großes Gebiet und eine so hohe Macht­stellung verfügten wie das polnische Reich. Nach dem Aus­sterben des Herrscherhauses der Piasten waren hier schließlich 1386 die Jagellonen zur Regierung gelangt; sie vereinigten mit Polen ihr angestammtes Großfürstentum Litauen. Nach dem Falle des Deutschordens hatten sie Westpreußen erobert und den Rest des Ordenslandes zu einem polnischen Teilfürsten­tum herabgedrückt; zum Ende des 15. und zum Anfänge des 16. Jahrhunderts waren Böhmen und Ungarn polnische Se- kundogenituren. Der polnische Machtbereich erstreckte sich damals von der Ostsee bis zum Schwarzen und zum Adria­tischen Meere, vom Fichtelgebirge bis an die Karpathen und weit in die südrussische Ebene hinein.

Unzweifelhaft liegt eines der wichtigsten Probleme der Geschichte in dem jähen Niedergang, den der polnische Staat und die polnische Nation seit dem Beginn der Neuzeit erlitten haben.

Sicherlich tragen an diesem Niedergange gewisse Fehler die Schuld, die die polnische Politik bereits im Mittelalter begangen hatte. Sie hätte sich das Ziel stecken müssen, die im Norden sitzenden, nahe verwandten Pommern und Preußen zu unter­werfen und sich zu assimilieren. Ein polnisches Staatswesen, das in kompakter Ausdehnung von den Karpathen bis zur Ostsee gereicht hätte, wäre so leicht nicht zerstört worden. Statt dessen ließen die Polen hier fremdartige Machtelemente sich entwickeln; ja, sie haben sie sogar selbst großgezogen, indem sie den Deutschen Orden zum Kampfe gegen die Preußen ins Land riefen, und das ließ sich niemals wieder gutmachen. Denn selbst die Unterwerfung des Ordens im 16. Jahr­hundert war nicht so vollkommen, daß sie den Orden und das Deutschtum an der Ostsee auszutilgen vermocht hätte; die Erbschaft des Ordens aber trat der brandenburgisch-preußische Staat an, der der natürliche Widersacher Polens werden mußte. Indem die Polen im Mittelalter also ihre politische Aufgabe im Norden vernachlässigten, wandten sie sich im Osten Unter­nehmungen zu, die ihnen zwar leichter und lockender erschienen, die ihnen aber in der Zukunft einen nicht minder gefährlichen Gegner erwecken sollten, nämlich Rußland. Sie machten Er­oberungen im Südosten und brachten das Land bis etwa an den Dnjepr an sich. Aber sie vermochten es nicht, die hier wohnende russische Bevölkerung sich national zu assimilieren; da diese nämlich der griechisch-orthodoxen Kirche angehörte, so hinderte schon der religiöse Unterschied eine wahre und innige Verschmelzung. Und als in der Neuzeit Rußland zu einem mächtigen Einheitsstaate erstarkte, drängte sich ihm unabweisbar die Forderung auf, die unter polnischer Herrschaft und römischem Glaubensdruck seufzenden Gebiete russischer Nationalität an sich zu ziehen.

So hat sich Polen die Feinde selbst erweckt und groß­gezogen, deren Beute es werden sollte. Aber daß es so weit kommen konnte, das lag vor allem an der mangelhaften inneren Organisation des polnischen Reiches. Das polnische Reich ist ein klassisches Beispiel für die Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Entwicklung in der Geschichte der Staaten.

Ursprünglich war die Monarchie in Polen unbeschränkt; das Königtum besaß eine patriarchalisch-omnipotente Gewalt, wie sie im Abendlande sonst nirgends vorhanden war. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aber wurde in die monarchische Vollgewalt der Krone Bresche gelegt. Denn nach dem Aus­sterben der Piasten wurde Polen rechtlich ein Wahlreich, und es begann nun ein wahrer Schacher mit den Kronrechten. Die Wahl Jagellos (1386) bezog sich nur auf seine Person allein, nicht etwa auf sein ganzes Geschlecht, und jeder seiner Nach­folger mußte die Krone immer wieder durch neue Privilegien vom Adel erkaufen. Denn da der Adel, die Schlachta, der einzige politisch bedeutsame Faktor in Polen war, hing von

seiner Zustimmung der Besitz der Krone ab; so riß er das Wahlrecht und dadurch schließlich alle politischen und sozialen Vorrechte und Machtbefugnisse an sich.

In sozialer wie auch in politischer Hinsicht hatte der Adel die herrschende Stellung. Die Bauern waren ihm zu wirt­schaftlicher Ausbeutung preisgegeben; der Herr verfügte über Leben und Tod des Bauern. Nichtadligen wurde das Recht des Grundbesitzers genommen; für ihre Person waren die Edel­leute von allen direkten und indirekten Steuern befreit. Das Bürgertum bildete euren Fremdkörper im polnischen Staats­wesen. Stüdtewesen und Bürgerturn waren in Polen nämlich erst im 13. und 14. Jahrhundert durch deutsche Einwanderung entstanden. Krakau war ursprünglich eine deutsche Stadt, etwa wie Breslau. Als nun zum Ende des Mittelalters der Adel alle Gewalt an sich riß, ging er daran, die Städte syste­matisch niederzuhalten; indem zur selben Zeit der slawische Nationalgeist erstarkte und um sich griff, wurden sie mehr und mehr polonisiert. Damit ging aber auch der reiche und schöpferische Geist zugrunde, der bisher in ihnen gewaltet hatte; sie sanken von der Höhe der wirtschaftlichen und all­gemeinen Kultur herab, auf der sie im Mittelalter gestanden hatten. In dem neu entstehenden Reichstage fanden sie zum Teil aus eigener Schuld, da es ihnen an Interesse mangelte, um sich dazu einzufinden keinen Platz; so fehlte ihnen auch politisch jede Bedeutung. Indem sie mehr und mehr verkamen, sanken auch der Handel und das Gewerbe; Polen wurde ein reiner Agrarstaat. Da es aber an einen: tüchtigen einheimischen Kaufmannstande fehlte, da die Verkehrs - Verhältnisse denkbar schlecht waren, so fand selbst die agrarische Produktion nicht den genügenden Absatz. Die Folge davon war eine steigende Verarmung, und damit stand der sinnlose Luxus einiger weniger Magnaten in grellem Gegensatz.

Tatsächlich und staatsrechtlich erlangte der Adel die Allein­herrschaft im Staatswesen. Er war organisiert in großen Gruppen, die auf dem Prinzip der Geschlechtsverwandtschaft beruhten. An der Spitze stand das Geschlechtshaupt, das den nicht teilbaren Grundbesitz der Familie innehatte; bei diesem schmarotzten die zahlreichen besitzlosen Vettern, ihm jederzeit zu militärischer und politischer Gefolgschaft bereit. DieBrüder­schaft" trat für jeden ein, der zu ihr gehörte. Um die geist­

lichen und weltlichen Ämter erhoben sich oft Kümpfe zwischen den verschiedenen Sippen. Und wenn es die Politik erheischte, so schlossen sich diese wieder zu großen Konföderationen zu­sammen. Eben dadurch erhielten die Parteizwiste einen ganz besonders scharfen und leidenschaftlichen Charakter; denn sie sogen ihre Nahrung aus dem gegenseitigen Hasse und der Rivalität der großen Adelsgeschlechter und Adelskoterien, deren Spielball und Zankapfel das Staatswesen mehr und mehr wurde.

Faktisch allmächtig, brachte der Adel auch verfassungsgemüß die ganze Staatsgewalt an sich. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hatten die Provinzialversammlungen des Adels, die sogenannten schnulli, die Stellung von Provinzial­landtagen; sie durften für ihre Provinz als ständische Ver­tretung bindende Beschlüsse fassen; zunächst was die Bewilligung neuer Steuern anbelangte, später auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung. Jeder Adlige aus der Landschaft durfte sich dazu einstellen; es galt auf ihnen, wie auch anderwärts im Mittelalter, das Prinzip der moralischen Einstimmigkeit; das heißt, irgend ein angesehener Mann, der sich die nötige Autorität zutraute, schlug den Beschluß vor, und die Versammlung be­zeigte ihm insgesamt durch Zuruf Beifall oder Ablehnung: es war ja dies das gleiche Prinzip, auf dem zum Beispiel ursprüng­lich die Wahlen zum englischen Unterhause beruhten.

Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurde es Brauch, daß der König nicht mehr mit den einzelnen Provinziallandtagen verhandelte, sondern sie Deputierte an den Hof zu gemeinsamer