Heft 
(1906) 03
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durchsetzte. Um eine Krone von so zweifelhaftem Werte zu gewinnen, entschloß sich der Wettiner zum Übertritt zum Katho­lizismus. Als er den Schweden, die Livland an sich gerissen hatten, dieses Land streitig machen wollte, eroberte Kaül XII. Polen und setzte an Augusts Stelle (1705) den Stanislaus Leszczynski zum König ein. Da die Schweden schließlich den Russen unterlegen waren, kehrte zwar August II. zurück; aber Polen ward jetzt faktisch ein russischer Vasallenstaat; selbst die innere Ordnung konnte nur durch russische Intervention noch einigermaßen aufrecht erhalten werden. Sowohl August II. wie auch sein Sohn August III. (17351765) waren Könige von Rußlands Gnaden, nicht minder Stanislaus August Ponia- towski, ein persönlicher Günstling der Zarin Katharina.

Unter seiner Scheinherrschaft vollzog sich denn auch das unvermeidliche Schicksal Polens. Auf die Klagen der griechisch- orthodoxen Untertanen über die Vergewaltigung, der sie aus­gesetzt waren, erzwang Katharina 1767 die Gleichstellung der Dissidenten in Polen. Da flammte im polnischen Adel der Zorn gegen die Fremdherrschaft empor, und zum Schutze der katholischen Religion und der alten Verfassung bildete sich 1768 die Konföderation von Bar; sie wurde von den Russen unter entsetzlichen Greueltaten niedergeschlagen.

Polen war jetzt direkt in der Gewalt Rußlands, und das erregte die Bedenken der benachbarten Großmächte, Österreichs und Preußens. Sie konnten einen so gewaltigen Machtzuwachs Rußlands nicht dulden. Die Frage war jetzt gar nicht mehr die: War Polen in der Lage, seine Unabhängigkeit und selbst seine äußere staatliche Existenz zu behaupten, sondern: Sollte es ganz und gar die Beute Rußlands werden? So weit wollten es Österreich und Preußen nicht kommen lassen; sie knüpften Verhandlungen mit Rußland an, und in deren Verlaufe tauchte das alte Teilungsprojekt wieder auf; es schien dem Interesse aller Mächte in gleichem Maße zu entsprechen. Im Jahre 1772 fand die erste Teilung Polens statt, durch die es ungefähr um ein Viertel seines bisherigen Besitzstandes, etwa 14 000 Ouadratmeilen, verkleinert wurde.

Erst jetzt, freilich viel zu spät, erwachte in Polen die Einsicht, daß nur eine gründliche Reformarbeit im Innern noch Rettung vor dem Schlimmsten bringen könnte. Der sogenannte vierjährige Reichstag (178892) unterzog sich dieser Ausgabe. Er schuf eine neue Verfassung, in der auch das bürgerliche Element eine wenngleich mehr als bescheidene Vertretung fand, die Erbmonarchie eingeführt, das liberum veto abgeschafft und Religionsfreiheit gewährt wurde; ein stehendes Heer von 100000 Mann sollte unterhalten werden. Aber eben diese Maßregeln konnten die Teilungsmächte nur anspornen, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Ruß­land machte den Anfang und einigte sich 1793 mit Preußen Zur zweiten Teilung Polens; dieses verlor etwa die Hälfte des Gebietes, das ihm 1772 belassen worden war, so daß ihm jetzt nur noch ungefähr 4000 Ouadratmeilen übrigblieben. So große Schmach wollte man nicht ohne allen Widerstand über sich ergehen lassen. Es brach ein verzweifelter Aufstand unter der Führung vor: Kosciuszko aus; an seiner Niederwerfung nahm auch Österreich teil, um nicht Rußland und Preußen allein die Beute zu überlassen. Das Ende war die dritte Teilung von 1795: Preußisch-Polen umfaßte jetzt das heutige Posen und Westpreußen und reichte noch bis Byalistok, Pultusk, Warschau, Kalisch, Sieradz und Czenstochau; ein gutes Drittel der preußischen Monarchie bestand somit aus slawischen Gebieten. Österreich hatte Galizien erhalten; der Löwenanteil, alles Übrige, war an Rußland gefallen.

Damit war zwar die Geschichte Polens an ihrem Ende angelangt, nicht aber die polnische Geschichte. Die polnische Frage erfüllt die osteuropäische Geschichte bis auf den heutigen Tag; war schon die Teilung Polens dem Bedürfnisse zur Ausrechterhaltung des europäischen Gleichgewichtes entsprungen, so bildete die polnische Frage auch im 19. Jahrhundert einen wichtigen Faktor in dieser Hinsicht. Und mochte auch Kosciuszko in der Schlacht von Maciejowice (1794), vom Pferde stürzend,

das Wort14ni8 Uolonme" gerufen haben, seine Landsleute gaben Polen noch nicht verloren. Sie setzten ihre Hoffnungen vornehmlich auf Frankreich, dem es freilich nie eingefallen ist, für sie auch nur einen Finger zu rühren.

Alle Versuche zur Wiederherstellung Polens sind allerdings bisher mißglückt. Dem NapoleonischenHerzogtum Warschau", dieser Karikatur eines staatlichen Gebildes, war nur eine ephemere Existenz beschieden, nicht minder demKönigreich Polen" Alexanders I. Unter dem Einflüsse des ehrgeizigen Fürsten Adam Czartoryski trug sich der Zar auf dem Wiener Kongresse mit dem Plane einer Wiederherstellung Polens im ganzen Umfange von 1772: mit einer konstitutionellen Ver­fassung und einer besonderen Armee ausgestattet, sollte es mit Rußland durch bloße Personalunion verbunden sein. Von den Ideen des Liberalismus durchdrungen, hielt der Zar das russische Volk doch noch nicht reif für den Konstitutionalismus; er dachte dem konstitutionellen Polen die Aufgabe zu, durch sein Vorbild die Russen zur Freiheit zu erziehen. Seine Ab­sichten stießen auf Widerstand sowohl bei den auswärtiger: Mächten, als auch bei den Russen selber. Diese wollten von einer Auslieferung der litauisch - kleinrussischen Provinzen an ein relativ selbständiges Polen nichts hören. Preußen wollte Posen und Westpreußen nicht entbehren; von Österreich konnte der Zar nicht mehr wie die Loslösung Krakaus als selbst­ständigen Freistaates erreichen. 1815 nahm Alexander den Titel einesKönigs von Polen" an; bald darauf erteilte er dem neuenKönigreiche" eine Konstitution, die unter einiger- liberaler Verbrämung eine Wiederherstellung der Adelsherrschaft, der Schlachte, bedeutete. Das Experiment des Zaren erwies sich bald als gänzlich verfehlt; 1832 wurde die Personalunion und die Verfassung für Polen förmlich wieder aufgehoben.

Mißlang also schon der Versuch, ein polnisches Staats­wesen von bedingter und relativer Selbständigkeit zu schaffen, so mißglückten erst recht die Unternehmungen zur Wiederherstellung der vollen nationalen Unabhängigkeit. Gewiß erfreuten sich die Polen ursprünglich bei ihren Aufständen der allgemeinen Sympathie in Europa. Wenn sich in Italien und in Deutsch­land die Tendenz zur Herstellung eines unabhängigen und einheitlichen Nationalstaates entwickelte, so schien es ungerecht, den Polen das Gleiche zu verwehren. Dazu kam, daß sich bei den Polen eine starke demokratische Partei bildete, die mit den liberalen und demokratischen Elementen in ganz Europa intime Fühlung hatte. Die heroische Tapferkeit, die die Polen im einzelnen Falle zeigten, die gewalttätige und brutale Behandlung, die ihnen von russischer Seite zuteil wurde, verklärten das ganze Polentum mit dem Schimmer des Mar­tyriums, mit einem romantischen Nimbus. Darüber vergaß man, daß die Polen selbst durch ihren Mangel an staatlichem Sinne, durch ihre politische Unfähigkeit die Totengräber ihrer nationalen Selbständigkeit geworden waren. Die Demokraten übersahen, daß das Ziel der polnischen Bewegung nicht der Umsturz der Throne, sondern gerade die Ausrichtung eines Thrones war, wobei der Mißstand eben nur der war, daß für diese Pläne jede dynastisch legitime Tradition als Stützpunkt fehlte. Und die Liberalen verkannten, daß die Wiederherstellung Polens, wie sie tatsächlich angestrebt wurde, den liberalen Ideen sehr wenig entsprochen haben würde: das polnische Ideal lag in der Vergangenheit, das der Liberalen in der Zukunft. Was nützen schließlich auch alle Sympathien? Alle Insurrektionen, die von 1830, 1846, 1848 und 1863, sind am festen Felsen der Macht der drei Teilungsstaaten abgeprallt; ihr Erfolg bestand lediglich darin, die innere Schwäche der polnischen Bewegung zu offenbaren: die Händel zwischen

den Parteien der Aristokraten und der Demokraten, die Unfähigkeit, Eifersucht und Unverträglichkeit der Führer, d. h. das Ünvermögen, sich wirklich der nationalen Idee mit Auf­opferung des eigenen Selbst zu unterwerfen, die Kluft zwischen Adel und Bauernstand. Die Aufstände wurden keineswegs von den Bauern immer so unterstützt, wie die Anstifter das gehofft hatten. In Galizien erhoben sich 1846