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„Du sollst mir bloß versprechen: bis zum Herbst, oder für ein Vierteljahr von jetzt ab läßt du mir Hoffnung."
„Das brauch' ich dir doch gar nicht erst in die Hand zu versprechen. Wär's jetzt möglich gewesen, dann . . . Ach, Theo, es Zerrt bloß an mir, und ich werde elend!"
„Du hast mich also — noch ein bißchen —- lieb?" fragte er leise, indem er die Augen schloß und ihre Hand preßte.
„Ja, Theo."
„Mehr will ich nicht. Mehr brauch' ich nicht." Er atmete tief auf. „Jetzt ist's an mir, zu zeigen, was ich kann. — In zwei Stunden geht's nach Frankfurt. Da will ich dich verdienen. Ja, verdienen, hörst du? Du — Paradiesvogel!"
Zärtlich lachte sie. Und Schulter an Schulter drängten sie sich in der Menge mit zum Steg, da das Dampfboot nahte.
Unterwegs sprachen sie dann von seiner Reise, leise, zärtlich bewegt, dabei öfters herzlich lachend. Er zitierte Dittrich wieder, so wie Gneitsch ihm sein Schwäbisch vorgemacht hatte: „Ha, wisse Sie, Herr Rittmeischter, oiner hat's Geld, und der ander hat's Schenie, mir ischt's Geld awwer ahng'nehmer!"
So schieden sie schließlich in äußerlich fast lustiger Stimmung. Küssen durfte er sie nicht mehr. In dem kühlen, Halbdunkelen Durchgang unter den Gleisen, durch den sich gerade wieder neue Scharen von Ausflügler:: drängten, trennten sie sich bloß mit einem festen Händedruck. Dann nahm jedes seinen besonderen Bahnaufgang.
Als ihr Zug der Stadt zurollte, stand sie am Fenster und blickte nach dem anderen Bahnsteig hinüber. Sie sah sein junges Helles Auge sie suchen. Aber in der langen Reihe der Fenster gewahrte er sie nicht. Es zuckte ihr in der Hand, um ihm noch einen Gruß zuzuwinken. Aber der Leute wegen, die im Coupe saßen, unterließ sie's.
Er tat ihr leid — grenzenlos leid.
Aber durfte sie ihm denn Hoffnung machen?
Das war ja Wahnsinn — der Helle Wahnsinn!
Und doch fieberte es noch in ihr. Wirklich lieb hatte sie nur ihn, nur ihn. Gernots Gestalt war weit im Nebel ihrer Gedanken und Gefühle versunken. Licht und klar hob sich für sie nur die junge Erscheinung des armen in die Welt gehetzten Burschen ab, der sie noch immer ebenso heiß, ebenso verzehrend liebte, trotzdem die Ehe mit ihr ihm doch sein Unglück gebracht hatte.
Eine tiefe Abspannung überkam sie. Vom Bahnhof fuhr sie in einer Droschke nach Hause. Es ging auf zwei Uhr, als sie am Viktoria-Luise-Platz eintraf. Zunächst begab sie sich in ihr Schlafzimmer, ohne sich beim Patienten zu melden. Er sollte annehmen, daß sie ihr Reitkleid wechselte.
Als sie, um ihr Haar zu ordnen, sich an den Toilettentisch setzte, fiel ihr Blick auf die Vriefschale, die Lotte mit der Frühpost dah'mgesetzt hatte. Es waren ein paar geschäftliche Drucksachen, eine Ansichtspostkarte und ein Brief.
Ein Ruck ging durch ihre Gestalt, ein fröstlicher Schauer überrieselte sie, als sie die Schriftzüge sah. Es war eine ihr seit kurzem sehr bekannte Handschrift: die von Sabinens Vater.
Eine ängstliche Scheu hielt sie eine Minute lang ab, den Brief zu öffnen, so brennend ihre Ungeduld dabei war.
Dann riß sie den Umschlag mit ganz unsicher gewordenen Fingern auf ... Das Schreiben enthielt die Erklärung Gernots . . . Eine besondere Regung des Taktes mochte ihn abgehalten haben, sich gegen sie auszusprechen, solange sie noch Gastfreundschaft unter seinem Dach genoß. „Aber die letzten beiden Abende, die wir ohne Ihre liebe Gesellschaft verleben mußten, haben uns beiden, Sabine und mir, erst so recht gezeigt, was wir in Ihnen besessen haben, liebste Frau —und was wir mit Ihnen verlieren würden." Es war alles wunderschön, klar und ohne Phrasenschwulst gesagt. Jede Zeile verriet den vornehm empfindenden Mann. Er bot ihr Herz und Hand — soweit er noch darüber verfügen konnte. „Eine liebe Stätte der Pietät wird immer in meiner Seele einen privaten Kult haben wollen, liebe Asta. Ich
weiß nicht, ob Ihre Jugend das schon so ohne weiteres begreifen kann. Befremdet Sie's jetzt noch — dann wird die Liebe zu Sabine es wohl sein, die Ihnen den guten und geraden Weg Zum Verständnis zeigt. Was Sie ihr geworden sind, kleine Vizemama, das wissen Sie. Und Sie können stolz darauf sein, daß Sie sich das junge Herz so im Sturm erobert haben. Der Sieg über das meine ging von Etappe zu Etappe. Vielleicht ist er Ihnen darum um so wertvoller. Und nun lassen Sie sich beide Hände küssen, lassen Sie sich ins Auge schauen, und geben Sie mir eine freie Antwort."
Die großzügigen Schriftzeichen tanzten vor ihren Blicken, dann verschwammen sie.
Sie war tief, tief bewegt. Ja, das Veste in ihr ward durch diese schlichte, stolze Sprache bewegt. Und wie in einer Versenkung verschwand wieder all das Heiße und Lockende und Verführerische dieses sonnigen Morgens. Hier sprach das ernste Leben zu ihr, hier ward noch einmal ihr Schicksal geschmiedet. Da verlor sie das Recht, dem Kindertraum, den phantastischen Zukunftsmärchen Theos noch länger nachzuhängen.
Aber voll ehrlichen Mitleids ging ihr's durch den Sinn: Armer Theo!
Wieder und wieder uberlas sie dann den Brief.
Natürlich mußte sie Gernot heute noch antworten. Aber sie wollte ihn bitten, das Verlöbnis vorläufig noch nicht zu veröffentlichen. Das war sie Theo schuldig. Gernot mochte es als eine letzte Prüfungsfrist auffassen.
Als sie endlich zu ihrem Papa hinüberging, um ihm den Brief zu zeigen, standen ihre Augen voller Tränen — sie wußte selbst nicht, ob vor Glück, ob vor Wehmut.
Die erste Aussprache mit Gernot war überstanden. Asta hatte darin einen schweren Stand gehabt.
Eine Prüfungsfrist brauchte Gernot für sich nicht mehr. Er mußte also in Astas Forderung einen Zweifel erblicken. Ihm den wieder auszureden, war nicht so leicht für sie. Beweis ihres vollen Vertrauens wäre eben nur die sofortige feste Zusage ohne jeden Vorbehalt gewesen.
Auf einen Menschen wie Gernot, der jedem Ding frei ins Auge sah, der vor nichts den Blick niederschlug und deshalb verlangte, daß auch seine Umwelt in jeder Lage Farbe bekannte, wirkte eine solche Unklarheit zum mindesten unbehaglich.
Es bedurfte des ganzen Zaubers der jungen Frau, um diese erste Trübung des herzlichen Einvernehmens wieder vergessen zu machen. Sie klagte sich vor Gernot selbst der
Launenhaftigkeit, der Unberechenbarkeit an und gelobte in drolliger Zerknirschung Besserung für später.
An der Tatsache ward nichts geändert: die Bekanntgabe ihres Verlöbnisses sollte erst im Frühherbst erfolgen. Für den September wollte Gernot die Hochzeit festsetzen.
Sabine empfand in ihrem feinen Taktgefühl sehr bald, daß der Verkehr zwischen ihrem Vater und seiner heimlich Verlobten einer Wandlung bedurfte. Lediglich der Leute halber.
Eines Tages besprach sie also mit dem Arzt eine Luftveränderung und trat dann mit einem fertigen Vorschlag hervor. Sie wollte für ein paar Wochen ins Gebirge reisen, um die ihr vom Arzt verordnete Luftkur zu gebrauchen, und sie bat Asta, sie zu begleiten.
Gernot verstand sofort: seine Tochter suchte etwaigen bösen Zungen auch den leisesten Anhalt zu lästiger Nachrede zu nehmen.
So wurden denn Mitte Mai die Koffer gepackt; in schonendster und vornehmster Weise hatte Gernot für Asta die Kosten der Vorbereitung, der Neuausrüstung und der Reise selbst mit übernommen, und gleich nach dem Pfingstfest fand die Abreise der beiden Damen nach Schwarzburg statt.