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Schule darin Zu etablieren. Ich habe Ihnen meine Neigung zu Kindern ja schon gestanden. Ich hatte Glück. Schon im ersten Winter wurden mir sechs kleine Mädchen anvertraut, im nächsten verdoppelte sich die Zahl, und es dauerte nicht lange, so mußte ich einen eigenen Saal für meine kleine Heerde mieten.
Aber mit meinen pädagogischen Erfahrungen, Freuden und Leiden will ich Sie nicht langweilen.
Genug, im dritten Sommer wollten meine Nerven mir nicht länger parieren. Ich hatte mir etwas zu viel aufgebürdet und mußte dafür büßen. Doch waren ja eben die großen Ferien, und mein Arzt verordnete mir, sie an der See zu verbringen.
Ein kleines Ostseebad war mir empfohlen worden, dahin ging ich denn auch und fand es ganz nach meinen Wünschen, sehr stilles Wasser ohne Ebbe und Flut, so daß es hauptsächlich von kinderreichen Familien besucht wurde. Ich hatte wieder die Wahl zwischen den reizendsten Blond- und Schwarzköpfen und war sehr beliebt, da ich mich zur „Tante" stets qualifiziert hatte und dies Talent hier eon amore ausüben konnte.
Nicht lange aber sollte sich meine Badegesellschaft auf lauter Unmündige beschränken.
In meinem Hotel erschien ein junges Paar, noch ein Brautpaar, mit der künftigen Schwiegermama des jungen Mannes, einer sehr stattlichen, temperamentvollen und liebenswürdigen Dame, die ganz in der Sorge für ihr Töchterchen aufging.
Das Fräulein war eben so zart an Leib und Seele und
von so passiver Gemütsart, wie die Mutter derb und tätig
und von beneidenswerter Gesundheit. Als ihre Zimmernachbarin kam ich bald in näheren Verkehr mit den Damen und erfuhr, daß die Verlobung im Frühjahr aus einem der
letzten Bälle stattgefunden habe, die Hochzeit solle aber erst
gegen Weihnachten gefeiert werden, da die Braut dann erst kaum siebzehn geworden sein würde, auch noch mancherlei zu lernen habe. Nun sei sie plötzlich erkrankt, an einem seltsamen Wechselfieber, das zwar wieder gehoben sei, doch eine große Schwäche und Reizbarkeit Zurückgelassen habe, wogegen eben dieser Aufenthalt an der See ihr verordnet wurde.
Die Tochter ließ all das von sich berichten, ohne sich an dem Gespräch viel zu beteiligen. Sie schien an nichts, was um sie her vorging, sonderlichen Anteil zu nehmen, und nur, wenn von ihrem Bräutigam die Rede war oder wenn er gar selbst ins Zimmer lrat, belebte sich ihr müder Blick und rötete sich das blasse Madonnengesichtchen, dessen feine, liebliche Züge noch einen fast kindlichen Ausdruck hatten.
Auf den ersten Blick schien das junge Paar wie für einander geschaffen.
Auch der Bräutigam, obwohl er wohlbestallter Professor an einer bedeutenden Universität und gewiß über die Dreißig hinaus war, machte den Eindruck eines fahrenden Schülers in höheren Semestern. Sein hübsches, bartloses Gesicht —- nur ein dünnes blondes Schnurrbärtchen saß über dem frischen Munde —, seine Gewohnheit, den Kopf in den Nacken zu werfen, als wenn er in den Wolken eine muntere Musik hörte, vor allem der naive, treuherzige Blick, mit dem er die Menschen betrachtete, ließen ihn als einen ewigen Studenten erscheinen. Sah man ihn aber genauer an und hörte ihn über irgend ein ernsteres Thema reden, so erkannte man leicht, daß man einen reifen Mann vor sich hatte, in dessen Innerem nur noch ein unverwüstlicher Rest seines Kinderherzens übrig geblieben war.
Es war sehr hübsch mit anzusehen, wie er sich gegen seine leidende Braut betrug. Nie kam er zu ihr, ohne ihr etwas mitzubringen, eine Muschel, eine seltene Pflanze, oder auch nur ein amüsantes, kleines Erlebnis, das er unter den Eingeborenen gehabt oder unter den Badegästen beobachtet hatte. Sie durfte nicht baden und wurde nur im Rollstuhl auf den Strand hinausgefahren, die stärkende Seeluft einzuatmen. Dann blieb er eine Weile neben ihr, plauderte heiter und suchte sie
auf jede Weise zu zerstreuen, und da ihm das selten gelang, fügte er sich mit einem Seufzer in diesen apathischen Zustand, der ja eben ein Symptom ihres Leidens war.
Ich konnte mir freilich nicht helfen: ich fand schon bald diese beiden, äußerlich sich so ähnlichen Verlobten sehr ungleich gepaart. Ein paarmal hatte er mich auf weiteren Spaziergängen begleitet, wozu die schönen Wälder reiche Gelegenheit boten. Da erschloß sich nur eine ganz neue Welt. Der junge Professor erschien mir als ein weißer Rabe unter seinen Berufsgenossen, kein Stäubchen von Zunftstolz und Gelehrtendünkel haftete an seiner Seele, obwohl er nichts Höheres kannte als seine Wissenschaft. Diese aber, die Wissenschaft von der Natur, betrieb er nicht aus Büchern, sondern aus der Fülle der Erscheinungen, und der kinderhafte Zug in seinem Wesen stammte eben davon her, daß er mit neugierigen Kinderaugen der alten Mutter Natur ihre Geheimnisse abzulauschen suchte.
Von ihm habe ich zum erstenmal im Leben sehen gelernt, und eine Welt der Wunder tat sich mir auf in den alltäglichsten Dingen, die ich doch schon gut genug zu kennen glaubte. Daß ich so dankbar dafür war, einen so aufmerksamen Schüler machte, gewann mir bald sein Interesse. Bei seiner Braut fand er nicht das geringste Eingehen auf all das, was sein geistiges Leben war. Sie hatte in ihrem engen, matten
Herzchen nur Sinn für kleine Weibersachen, Toilette und persönliche Angelegenheiten, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die viel Natursinn besaß. Ihr Schwiegersohn gestand nun auch mit einem etwas gezwungenen Lächeln: zuerst habe er sich in die Mutter verliebt, als sie einmal einen Besuch in seinem Laboratorium gemacht, wo er verschiedenen Damen eine neue Entdeckung zeigen wollte. Erst nachher sei er durch das Rühmen, das gute Freundinnen von der schönen Tochter gemacht, auf diese aufmerksam geworden.
Wie's eben weiterging, brauche ich gerade Ihnen wohl nicht ausführlich zu erzählen. Sie wissen ja, daß ich zu allem Kindlichen einen tiefen Hang in mir fühle, und wenn das nun noch in einem Manne mir entgegentrat, bei dem mir alle Kritik verging, der zum erstenmal meinen wachen Verstand überrumpelte, so daß er sich wehrlos gefangen gab, so begreifen Sie, daß endlich auch die Reihe an mich kommen mußte.
Ich war aber noch so hellsichtig, dies sogleich einzusehen und mir's dabei unsäglich wohl sein zu lassen, so hoffnungslos die Sache war. Endlich einmal zu erleben, was mir bisher nur ein dunkler Begriff gewesen war: ein Gefühl, das alle anderen geistigen und seelischen Triebe verschlang, jene Liebe, die in der Tat höher war als alle Vernunft und völlig blind machte für jedes äußere Hindernis —! Und freilich, auch wenn ich noch so scharf nach Mängeln und Schwächen gespäht hätte, der, den ich liebte, konnte die kälteste Prüfung aushalten.
Ob er etwa die Schwäche hatte, trotz seiner Bräutigamspflichten auch mich liebenswürdig zu finden, danach fragte ich keinen Augenblick. Wenn ich dich liebe, was geht's dich an? war meine Devise, und so lag mir, da er ja nicht frei war, nichts ferner, als ihn in mich verliebt zu machen, ja es war eine Art süßen Schmerzes in meiner Erkenntnis, daß ich alles zu geben hatte und nichts dafür zurückempfing. So. etwas müssen die richtigen Märtyrer empfunden haben, die den Himmel offen sahen, wenn sie sich auf einen glühenden Rost legten.
Und da ich mir der Reinheit und Redlichkeit meiner armen Seele bewußt war, beobachtete ich auch nicht die geringste Vorsicht ihm gegenüber, genoß den täglich immer vertrauter werdenden Verkehr ganz arglos und dachte: Schlimmer kann es nicht
kommen! Tiefer kannst du in diesen Abgrund von Leidenschaft nicht versinken, als es schon geschehen ist. Für ihn braucht dir nicht bange zu sein. Den hält ja eine andere an einem festen Seil, so daß er nicht auch abstürzen kann und heil davonkommt.
So genoß ich unbedenklich das Glück dieser Stunden und Tage.