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gel an Licht und Luft gefährden aber nicht nur ihre eigene Gesundheit. Räumen die ansteckenden Krankheiten unter ihnen auf, so ist auch dafür gesorgt, daß die Krankheitskeime verschlepptwerden. Das Einwickeln der Bonbons ist Heimarbeit — fünf Pfennig in der Stunde!
Und doch sind all diese Zahlen noch zu hoch gegriffen. Die Zeit, die der Arbeiter zur Ablieferung der Ware beziehungsweise zum Empfang der neuen Arbeit braucht, ist durchaus nicht gering; die Stunden, die er auf dem Wege zur Fabrik und dort im Abfertigungskontor mit Warten Zubringt, bezahlt ihm kein Mensch. Und wie kostbar, wie teuer ist die Stunde, wenn sie nur 6 Pfennig einbringt!
Wollten wir die Stätten der Hausindustrie aufsuchen, so kämen wir in Gegenden von großer landschaftlicher Schönheit, die in grellem Gegensatz steht zu dem Jammer und Gram, der sich in den so malerisch gelegenen Hütten birgt. Gerade in dem schönen deutschen Mittelgebirge hat sich die Hausindustrie am lebhaftesten entwickelt, und die allen Gebirgsbewohnern eigene tiefe Liebe zu ihrer Heimat wurde die Quelle ihres Unglücks. Da sitzen sie seit Jahrhunderten auf einem kleinen Stückchen ererbten Grundes. Die Erde gibt nicht genug her, um die vielköpfige Familie zu ernähren. Was erst vielleicht Nebenerwerb war, wurde dann bald die einzige Quelle des Lebens.
Der Strom der Vergnügungsreisenden läuft hart an ihren Hütten vorbei, die den Harm
Wir reisen tiefer in die bayerischen Berge. Hart an der österreichischen Grenze liegt das prachtvolle Mittenwald, in dem seit Jahrhunderten eine berühmte Geigenindustrie blüht. Das Cello, das mit 80 Mark in den Handel kommt, bringt seinem Verfertiger nur 20.
Wir wenden uns nach Norden. Im Erzgebirge und in Thüringen sind alle Arten von Heimindustrie heimisch.
Abb. 7. Thüringer Kinderspielzeug (Der Arbeiter verdient 3 Pfennig in der Stunde.)
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Abb. 8. Thüringer Kinderspielzeug.
(Ein Kind verdient 1^ Pfennig, eine Familie auf den Kopf 4^ Pfennig in der Stunde.)
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los Genießenden gerade wegen ihrer Baufälligkeit so malerisch erscheinen. Die Besucher des schönen Schwarzwaldes aber ahnen nicht, daß da im Innern hart Kopf an Kopf Männer, Frauen und Kinder für 15 bis 20 Pfennig in der Stunde Uhrenwerke zusammenstellen (s° Abb. 5). Und wenn die Schwarzwälder Uhr behaglich an der Wand tickt und auch uns vielleicht die Stunde des Kummers anzeigt, so erzählt sie doch nichts von den notgepeitschten Menschen, die einst ihr Werk zusammenfügten.
Und weiter geht die Fahrt in das schöne Oberammergau zu den Holzschnitzern. Da regen sich fleißige Hände. Dreißig Stunden schnitzen sie, um ihr bescheidenes Kunstwerk mit 3 Mark 50 Pfennig bezahlt zu sehen (s. Abb. 4). Mann und Weib schaffen emsig an dem armseligen Christusbild, das irgendwo am Wege , seinen Platz finden wird. Aber auch die fromme Einfalt wird nicht reicher mit irdischen Gütern gezahlt. Zu zweit erarbeiten sie an dem Herrgottsbild in sieben Stunden — eine Mark (s. Abb. 6).
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Abb. 9. Klöppelspitze.
(Die 81jährige Arbeiterin verdient 1^ Pfennig in der Stunde.)
wie in Nürnberg werden vor allem Kinderspielfabriziert. Nur wenige Jahre des Lebens sehen die Kinder alle jene munteren kleinen Sachen mit
unbefangener Freude an. In ihrem fünften Lebensjahr wissen sie bereits, daß Bleisoldaten und Holzpferdchen nicht für sie auf der Welt sind, und ihre zarten Finger beginnen zu arbeiten. Ein ganzes Menschenleben hindurch schaffen sie den Kindertand, bis ihnen endlich der frühe Tod die Arbeit aus der müden Hand nimmt.
Die Verfertiger von Spinnrädchen verdienen 4^ Pfennig, die der Puppenschränke und -Kommoden 3 bezw.1 ^Pfennig in der Stunde (s. Abb. 7, 8). Und ob die kleinen Hände nun Pferdchen und Eselchen, oder Puppenschrünke machen, oder ob sie mit blutenden Fingern die winzigen Federn in Druckknöpfe pressen oder Haken und Ösen auf Karten nähen
— das Bild des Jammers: Verkrüppelung, Schwindsucht, früher Tod bleibt überall gleich.
Doch dieser frühe Tod ist ein Trost. Wehe dem, der im hohen Alter mit der Arbeit nur noch langsam vorwärts kann! Die armen alten Weber in der Heimat Gerhart Hauptmanns verdienen auch heute kaum mehr als vor sechzig, siebzig Jahren
— 3^2 Pfennig in der Stunde.
1906. Nr. 7.
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