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hörte, wie all die kleinen boshaften Teufelchen, die ihn gezwackt hatten, kopfüber die Treppe hinunterpurzelten und Fersengeld gaben.
Gottlob! Er hatte sie wieder, seine treuen Genossen: die Vernunft, seine schwer zu erschütternde Geduld, seinen Humor — wenn dieser auch eine kleine Dosis von Galgenhumor beibehielt. Es konnte auch seine Heiterkeit nicht mehr trüben, als er beim Handschuhanziehen bemerkte, daß beide auf die Linke gehörten. Und mit einem nahezu sonnigen Gesicht stieg er in dem einfachen, doch einer gewissen billigen Eleganz nicht entbehrenden Hause in der Bleibtreustraße die drei Treppen empor und schellte an der gardinenverhängten Glastür.
Dabei fiel sein Auge auf das porzellanene Namensschild. „Baronin von Fab er" stand da, in großen deutlichen Lettern. Bon Faber? Und Baronin? -
War's denn hier recht? Es stimmte doch sonst alles. Aber
„von" —? Hatte der Fritz ihm etwa unterschlagen, daß er eine adlige Dame zu Tisch führen sollte? Weil er seine „Idiosynkrasie" — wie der Fritz es zu nennen beliebte — kannte? Weil er fürchtete, daß dieser eine Umstand seinen mühsam erkämpften Entschluß wieder über den Haufen werfen könnte?
Er hörte hinter der Gardine Schritte, Stimmen, viele Stimmen, Kichern - ein lautes, vergnügtes Ausquietschen. Die Tür öffnete sich. Ein allerliebstes junges Dienstmädchen mit weißer Schürze öffnete und betrachtete ihn mit augenscheinlichem Amüsement, während er nach dem „gnädigen Fräulein" fragte.
„Ach, gnä Fräulein sind schon vor 'ne Viertelstunde fort. Punkt dreiviertel Hab ich 'ne Droschke holen müssen. Fein war se ja grade nich. Aber was sollte Fräulein machen?" Und dabei war's mit ihrem offiziellen Ernst zu Ende. Sie lachte den Baumeister ganz ungeniert an und fügte mit einer niedlichen Bosheit hinzu: „Schön gewartet hat se aber, unser Fräulein."
Arnold Schmidt quittierte die Anzüglichkeit mit einer flüchtigen Verbeugung und machte Kehrt, schneller als er gekommen war. Wie eine schattenhafte Vision glaubte er im Halbdunkelen Hintergrund des Korridors eine Zahl von weiblichen Köpfen gesehen zu haben, alle jung und reizend, alle lachend, neugierig, spöttisch, übernrütig.
Er hatte aber nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Der kurze Weg bis zur Kirche war mit Windeseile durchmeffen. Der Wagen hielt vor dem rundbogigen Portal der Gedächt niskirche.
Mystisch gedämpftes Licht, aus geheimnisvoll verborgenen Quellen strömend, leiser Orgelklang, stimmungsvolle Farben Harmonie, tief und satt und weich; Goldfunken aus warmem Schatten aufblitzend — überall Reichtum und Pracht, Kunst und Schönheit.
Andächtig schritt Arnold Schmidt unhörbaren Fußes durch die ganze Länge des Schiffs bis zum Altar und drängte sich durch eine dichte Menge neugieriger Zuschauer bis in den Kreis der Gäste. In der äußersten Reihe fand er noch einen Platz zwischen zwei Seidenschleppen, einer blauen und einer braunen, die lang gespreizt wie Pfauenschweife über den Teppich des Bodens ausgebreitet waren. Und dank seiner ungewöhnlichen Statur konnte er über Köpfe hinweg, zwischen Köpfen hindurch das ganze farbenprächtige, feierlich schöne Bild in sich aufnehmen.
Es kam ihm etwas Feuchtes in die Augen, als er den Fritz sah, so blaß und ernst, so lang und schlank — diesen Fritz, mit dem er zusammen durch Hecken und Zäune gekrochen, auf Böden und in Kellern herumgetobt, mit dem er tausend tolle Streiche vollführt, mit dem und für den er manche Tracht Prügel eingesteckt und dem er in der schwersten Krisis einer etwas leichtsinnigen Jugend mit Rat und Tat, mehr aber noch durch das Beispiel seiner altmodisch und gutbürgerlich ehrenfesten Gesinnung auf den rechten Weg geholfen hatte.
Da stand der Fritz, und neben ihm, wie ein himmlisches Wesen in Schleierwolken gehüllt, seine kleine, gute, einfache
Herta. Und dicht hinter dem Brautpaar, zu beiden Seiten des Altars saßen die Brautjungfern, junge, holde Mädchengestalten in lichten Farben, so lieblich und unschuldig, als könnten sie kein Wässer lein trüben. Und doch Arnold Schmidt hätte nicht seine Erfahrungen haben müssen! - Er machte heimlich drei Kreuze.
Auf einmal fiel's ihm ein: die Ursula Faber, von Faber. Welche mochte das sein?
Daraufhin betrachtete er die holden Verderberinnen der Menschheit noch einmal des näheren, und bei jeder dachte er einen Augenblick: die ist's! und im nächsten sagte er sich wieder: sie kann's nicht sein.
„Kein Backfisch mehr", hatte Fritz gesagt. Und hübsch auch nicht. Das paßte aus keine. Also hatte ihn der Fritz auch damit angeführt, der Spitzbube! Und er war richtig auf den Leim gekrochen!
Die Besitzeritt der blauen Schleppe machte jetzt eine Wendung nach rechts, und durch die so entstandene Bresche konnte der Beobachter einen Blick aus eine Gruppe von Gästen er Haschen, die ihm bisher verborgen gewesen waren. Und aus. einmal sieht er ein Gesicht. Und weiß so sicher, als hätte es ihm jemand ins Ohr gesagt: das ist sie!
Zwischen den eleganten Männern in Frack und Uniformen, den diamantengeschmückten üppigen Frauen stand das junge Mädchen in seinein lächerlich einfachen weißen Kleidchen wie
— er wußte nur einen Vergleich: wie ein Gedicht zwischen alltäglichen, platten oder sensationellen Zeitungsberichten.
Die geheimnisvolle bunte Dämmerung der Altarnische, der starke Duft des immergrünen Laubes und der Blumensülle, mit der die Kirche verschwenderisch geschmückt war, das rötlich gelbe Licht, das alles in einen magischen Schimmer tauchte und die feierliche Handlung wie mit den: Schleier eines hohen Mysteriums umwob — und darin klar und leuchtend dies eine junge Menschengesicht: — Arnold Schmidt war's, als träumte er. Und eine Angst hatte er, daß er erwachen könnte
— und alles verschwunden sein würde auch dies Gesicht —
Ja, ein „Gesicht". Nicht in dem gewöhnlichen Sinne.
Ein Gesicht, eine Erscheinung. Die Offenbarung von etwas Holdem. Lieblichem etwas sehnsüchtig und heiß Gesuchten!, vom guten, klugen, hochsinnigen Weibe.
Seine Seele wurde ihm groß und weit. Nicht einmal der Gedanke an den groben Verstoß, den er begangen hatte, konnte seine Ruhe stören.
Denn daß sie hier im Hintergründe stand, „Hertas Beste", zwischen der ganzen Gevatterschaft und den ferneren Bekannten der Familien, statt ihrer Freundin die Nächste zu sein an dem wichtigsten Wendepunkt ihres Lebens, das war seine Schuld. Und es hieß, frei und ehrlich bekennen und büßen.
Als nun die Orgelklänge wieder einsetzten und der Zug sich ordnete, um unter Begleitung jubelnder Harmonien die Kirche zu verlassen, da bahnte Arnold Schmidt sich eine Gasse durch die dichtesten Gruppen der Gäste hindurch, und als sei es selbstverständlich — verneigte er sich vor Ursula Faber und bot ihr den Arm.
Sie sah mit ruhigem Erstaunen auf. Ihr stilles, ernstes Ge sicht, das noch ganz die innere Sammlung verriet, blieb unbeweglich, als sie ihre leichte kleine Hand auf seinen Ärmel legte.
Schweigend durchschritten sie nebeneinander den langen Mittelgang, an dessen Ende das Tageslicht kühl und silbern durch die weitgeöffneten hohen Flügeltüren in die Vorhalle fiel.
Und in dieser harten und nüchternen Alltagsbeleuchtung sah die Welt aus einmal ganz anders aus. Hier war Ursula von Faber nicht mehr „das Gesicht", das Arnold Schmidt wie eine Offenbarung erschiene!: war — hier war sie die vornehme junge Dame, gegen die er Kavalierspflichten zu erfüllen hatte.
Die Gesellschaft staute sich in der Halle, während die Wagen einzeln vorfuhren, um die Gäste auszunehmen. Das würde eine Weile dauern, ehe sie herankamen. Arnold Schmidt mußte seine Rede beginnen.