192
„Gnädiges Fräulein," sagte er, und merkwürdigerweise machte es ihm gar keine Schwierigkeiten, so schwer ihm auch sonst diese Höflichkeitsform über die Lippen ging. „Mein gnädigstes Fräulein — ich bin untröstlich ..."
Und als sie ruhig und fragend die braunen Augen zu ihm aufhob und es ihm einfiel, daß er sich ihr ja noch gar nicht vorgestellt, fügte er schnell hinzu: „Schmidt."
Da sah er, wie ihr ein kleines, fröhliches Lächeln übers Gesicht huschte, während sie mit leichtem Kopfneigen seine tiefe Verbeugung erwiderte. Und dann fragte sie — wahrhaftig ganz ohne Ironie, vielleicht ein klein bißchen schelmisch überlegen: „Untröstlich? Warum, Herr Schmidt?"
„Ich hatte das Mißgeschick, Sie.warten zu lassen . . ."
„Mißgeschick? Hm, man könnte das vielleicht auch noch anders nennen," meinte sie, wieder mit der nämlichen süßen Schelmerei.
„Ach seien Sie edel, gnädiges Fräulein! Verzeihen Sie nur! In Ihren Augen bin ich natürlich ein . . . nun, die Sprache hat keine Worte für ein solches Vergehen! Aber wenn Sie meine Leidensgeschichte hörten ... ja eine Kette von Leiden ..." Und Arnold Schmidt, der Damen gegenüber sonst ein Stockfisch war, Arnold Schmidt erzählte die tragikomischen Erlebnisse dieses Tages mit einem Humor, einem Feuer, einer Gewandtheit, die ihn sich selbst zu einem Gegenstand des tiefsten ungläubigsten Staunens machte.
Wer spricht denn da? dachte er zwischendurch — denn seine Seele schien sich gespalten zu haben und dieser neue Teil auf eigene Hand dem Fräulein gegenüber den Schwerenöter zu markieren — wie komme ich zu dieser Suada? Ist das Hexerei?
Und mit wachsender Genugtuung sah er das Fräulein lachen, augenscheinlich sehr amüsiert und gar nicht böse, was natürlich seine Sicherheit, sein Selbstvertrauen bis zu einem wahren Rausch steigerte.
Ursula hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, was sie in seinen Augen nun vollends zu einem Unikum machte. Eine Frau, die schweigen, die den Mund halten konnte! Die nicht jeden vernünftigen Gedanken im Keim totschlug mit ihrem Geplapper über — nichts! Und ihre klugen Augen, in denen das Verstehen leuchtete! Er konnte förmlich sehen, wie sie sich die Situation ausmalte. Nur als er — einem unwiderstehlichen Wahrheitsfanatismus folgend >— bekannte, wie tief er seine brave Schmälzlein gekränkt hatte, sagte seine Zuhörerin ein bedauerndes „O!"
„Beurteilen Sie mich nicht nach diesem brutalen Zuge, mein gnädiges Fräulein!" rief er dringend. „Ich bin sonst ein Engel an Sanftmut in meinen vier Wänden. Und ich werde ihr natürlich ein Pflaster auf die Wunde legen —- ein schwarzes Heftpflaster — (Mein Gott! belauschte er sich, das ist ja ein Witz! Wie komme ich dazu?) nämlich ein schwarzseidenes Kleid, das sie sich gewünscht hat ..."
„Sie werden sie aber verwöhnen," warf da das Fräulein ein bißchen altklug ein. Und daran merkte er, daß sie nicht mehr so jung sein konnte, wie sie aussah; denn nach dem ersten Sehen hatte er sie für achtzehn taxiert.
„Übrigens," und sie machte einen Schritt nach der Tür, „da kommt ja meine Equipage ..."
Arnold Schmidt sah hinter dem prachtvollen Schimmelfuhrwerk, das eben vor dem Portal hielt und in das Onkel Julius, der Senior der Familie Siebmacher, etwas schwerfällig seine kleine runde Figur schob, ein Vehikel halten, das ihm einen halblauten Ausruf des Schreckens entlockte.
Der vorsündflutliche Bau des alten Kastens, der rotnasige Kutscher im verwitterten blauen Mantel, der lebensmüde Gaul, der mit geknickten Knien sich an den Deichselscheren ausrecht Zu halten schien — um Gottes willen, wie kam diese Droschke zweiter Güte nach Berlin >V? Wie kam sie in diese Gesellschaft von eleganten Wagen?
„Gnädiges Fräulein," stammelte er, Ursula überholend und ihr den Weg verstellend, „in dieser Arche Noah sind Sie gekommen?"
Sie nickte. „Schön ist sie ja nicht," meinte sie doch mit etwas bedenklichem Gesicht. „Indessen, ich muß bis zum Hotel mit ihr fahren."
„Unmöglich!" rief er energisch. „Dort hält mein Wagen. Sie müssen mir jetzt die Ehre erweisen, mit mir zu fahren, um die mich vorher mein tückisches Mißgeschick gebracht hat!"
Sie schüttelte ruhig den Kopf. „Das geht doch nicht. Ich Hab sie nun mal bis ins Hotel bestellt."
„Was tut das? Wir schicken sie weg," bestimmte Arnold Schmidt kategorisch, dieser Arnold Schmidt, der ein paar Wochen lang wie im Fegefeuer gelebt hatte in der Erwartung des heutigen Tages.
„Nein, nein," flüsterte sie, aber nur noch halb widerstrebend, denn der Gedanke, angesichts der dichtgedrängten Zuschauer diesen Rumpelkasten zu besteigen, schien ihr doch ein kleines Unbehagen zu bereiten. Als er sich jedoch aufs Bitten legte, gab sie zögernd nach. Aber . sie ging trotzdem auf die jetzt vor den Portalstufen haltende Droschke zu.
„Was denn? Aber was denn?" rief er halb flüsternd, doch außer sich.
Da sah er, wie sie ihr kleines Portemonnaie zog. Und nun begriff er. Und wie ein Held schritt er hocherhobenen Hauptes durch die gaffenden Leute, nahm das erste beste Geldstück aus der Tasche und gab es dem Kutscher.
Der betrachtete es eine Weile, während Arnold Schmidt, ein Erröten auf dem Gesicht, wie er's seit seiner grünsten Jugendzeit nicht mehr gekannt hatte, sich zu seiner Dame zurückbegab . . .
„Heda!" rief ihm der brave Rosselenker nach, „das sind ja zehn Mark! Haben Sie's nich kleiner?"
Noch mehr erglühend — wenn das überhaupt möglich wäre — winkte Arnold Schmidt zornig ab, während der überraschte Kutscher grinsend und die Hand an den schwarzlackierten Hut legend, davonfuhr.
Ursula Faber sah dem Baumeister mit einem seltsamen Blick entgegen. Er wurde nicht recht klug daraus. Etwas Weiches war in ihren klaren Augen, beinahe wie Rührung. „Ich danke Ihnen," sagte sie einfach.
„O — bitte ..."
„Es war eine unangenehme Situation, nicht wahr? Aber Sie haben Ihre Sache tadellos gemacht. Ich muß Sie loben."
Arnold Schmidt fühlte sich wie im Himmel. „Sie machen mich glücklich — überglücklich!" sagte erglühend, und sie sah es ihm an, daß er die Wahrheit sprach. Und da — so ruhig, sicher und kühl sie ihm bisher erschienen war, stieg auf einmal — er traute seinen Augen nicht — zartes Rot in ihre Wangen, und sie senkte die Blicke.
Himmel! was hatte er da wieder —?! Natürlich etwas Taktloses gesagt; etwas, das man in „diesen Kreisen" nicht sagt! Das bloß einer fertig bringt, der „keine Kinderstube" gehabt hat.
Das schoß ihm durch den Kopf und Zerplatzte wie eine Seifenblase, als er ihr in das seidengepolsterte Schmuckkästchen von Wagen half und die prächtigen Rappen dahinstoben über den Platz.
O Wonne! O Seligkeit! Seite an Seite mit ihr in diesem engen Coupe.
Er schaute, schaute — wurde ganz Auge, ganz Aufnahme ihres Wesens. Gott, daß ein Mensch so süße kleine Kinderzähne haben konnte und doch so vernünftig und klug reden. Und die Stimme, die klang ja wie Musik — weich, keine Spur von Dialekt. Während er den Berliner nicht verleugnen konnte. Natürlich, wer so waschecht ist —
Was hatte sie eben gesagt? Herrgott, jetzt hätte er wohl antworten müssen. Sie sah ihn so merkwürdig an —
Und aufs Geratewohl pflichtete er ihr höflich bei: „Selbstverständlich, mein gnädiges Fräulein!"
Aber er merkte sofort, daß das nicht richtig war; denn nach einem kleinen staunenden Stutzen fing sie an zu lachen, herzlich, doch so innerlich, daß er's nur an dem Zucken ihrer