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aber fühlte, daß er bei all dem ihr und ihres kleinen Jungen Freund geworden war, daß Franz Schneeberger, dessen Lebensschifflein kein rechtes Ziel gefunden hatte, ihr dankbar war dafür, daß sie ihm manchmal ein paar Stunden lang ein Surrogat bot für ein Heim und daß sie seine sonderbare Art mit launenloser Ruhe ertrug.
So verging wohl ein Jahr -- ein Jahr, das voll von Arbeit und von Sorgen war für die Frau Bang und das sie doch fester als all die Zeit vorher ins Leben stellte. Denn seltsam war das, und sie selbst verstand es kaum. Was sie früher, als noch ihr Mann gelebt, niemals so klar gesehen hatte, das stand nun unverrückbar vor ihr: ein Ziel — ihr Kind! Dem fühlte sie sich nun so nah wie nie vorher, und ihr war's oft, als weckte diese Nähe ein neues hingebendes Fühlen, das tiefer war als alles, was sie bisher empfunden hatte. — —
Es kam die Zeit, da Georg Bang zur Schule sollte. Lange vorher hatte Frau Marie mit ihrem Buben schon davon gesprochen. Sie hatte ihm die Schule als etwas Schönes dargesteüt und hatte es versucht, Freude für sie in diesem Kinderherzen zu erwecken. Nun aber, als der erste Tag des Schulbesuchs gekommen war, als sie den Kleinen zum ersten Male nach der Schule führte, wo sie ihn dann für Stunden allein bei fremden Leuten lassen sollte, da legte sich ein Druck ihr ums Herz, und auch der kleine Georg hatte Angst. Frau Marie trug in dem einen Arme ein Paket mit Wäsche, die sie gestickt hatte und nun in dem Geschäfte wiederum abliefern wollte, an die freie Hand hatte der Bub sich geklammert, und so zog sie ihn sanft nach sich. Sie brachte ihn bis an das Zimmer der Klasse und blieb bei ihm und beruhigte ihn, bis der Lehrer kam.
Dann ging sie.
Er aber war jetzt so allein — ganz allein. Um ihn die vielen, vielen fremden Knaben, das war dem menschenfremden kleinen Buben alles so ernst und ungewohnt. Es schwindelte ihm, und plötzlich kam ein Einsamkeitsgefühl inmitten all der Vielen über ihn, so stark und unbezwinglich, daß er laut zu weinen begann und unter Tränen nach seiner Mutter rief.
Die Köpfe der anderen Knaben wandten sich alle nach ihm um, einige Jungen kicherten dabei. Der Lehrer aber klopfte hell mit dem Bleistift auf seinen Tisch und sagte: „Du Kleiner, weine nicht, hier wird dir niemand etwas tun. — Sieh, wie die anderen vernünftig sind, und laß dich nicht beschämen. Sei also ruhig jetzt und störe nicht!"
Da war Georg Bang gleich still und hörte auf zu weinen. Mit ängstlichem Blicke sah er zwischen den anderen durch starr nach vorn, wo nun der Lehrer wieder zu der ganzen Klasse sprach. Aber die großen, dunkelen Augen des Buben, die noch in überquellenden Tränen standen, gaben dem Kindergesicht einen unsicheren, verschüchterten Ausdruck, und mühsam unterdrückte Georg das Schluchzen, das ihn schütteln wollte. Leise liefen die runden Tränen über die Wimpern, rollten die Wangen herunter und tropften auf den glatten, braun gestrichenen Tisch. Er aber wischte sie nicht ab, saß ganz still und blickte tapfer weiter nach vorn, bis er nach und nach ruhiger wurde und bis die Tränen aus seinen Augen verschwanden.
Es lag jetzt ein unsicheres Etwas in seinen Zügen, das diese jungen Augen versorgt und ängstlich zage und ergeben scheinen ließ. Und dieser Ausdruck, der auch später in dem Leben Georg Bangs noch oft aus seinen Zügen mit herben Zeichen sprach, prägte sich leise, aber stetig tiefer in das Kindergesichtchen. Das Leben setzte seine Schrift auf einen neuen Menschen.
Von da ab war der kleine Georg still in der Schule und weinte nicht mehr. Aber die Schule behielt etwas Beengendes für ihn, und es legte sich stets wie ein scheuer beängstigender Hauch über ihn und sein Fühlen, so oft er das große Haus mit den hallenden Treppen, den langen Gängen und den vielen Türen, und so oft er das weißgetünchte Zimmer mit den hohen kahlen Wänden betrat. Er war befangen in der Schule und verschüchtert.
Mit den anderen Schülern verkehrte er nur wenig. Die hielten ihn, da er im ersten Jahre von der Mutter stets zur Schule hinbegleitet und ebenso abgeholt wurde, für weichlich und verzärtelt. Sie neckten ihn auch gern damit; aus dem Kichern über seine Tränen am ersten Schultage war ein zäher Spott geworden, mit dem quälten sie ihn, und den gossen sie immer wieder über ihn mit der ganzen naiven Gefühllosigkeit ihrer Kinderherzen. Ein paarmal war er in den ersten beiden Jahren wohl auch einem oder dem anderen von den Mitschülern nähergetreten, denn er sehnte sich nach einem Freunde. Aber niemals war es zu einem warmen Sichverstehen gekommen, denn der Spott der anderen erstreckte sich alsbald auch auf jene „Freunde" Georgs, und sie, die gleich den meisten Knaben, nirgends empfindlicher und leichter zu verletzen waren als in dem Bubenstolze, sie wurden allzubald dem schüchtern sich erschließenden Herzen Georg Bangs ungetreu. Sie zogen sich zurück von ihm, sie stimmten laut und skrupellos in das Geschrei der anderen ein und dachten nicht, wie weh sie damit dem verratenen Knaben taten.
So schied sich Georg immer mehr von seinen Schulgenossen. Er fühlte, daß er nicht zu ihnen paßte, und trug sein Freundschaftssehnen still im jungen Herzen.
Im dritten Jahre seiner Schulzeit aber fand er einen echten Freund — an den er sich in tiefer Liebe schloß. Der war ein lebhafter, beweglicher und blühend frischer Junge, der Sohn eines Bankbeamten. Er hieß Gerold und mit dem Rufnamen Hans. Während der ersten beiden Schuljahre hatte er zu. Hause gelernt — sein Vater hatte ihn selbst unterrichtet — so war er direkt in die dritte Klasse eingetreten. Mit diesem also plauderte Georg Bang in den Zwischenstunden, und da sie etwa in der gleichen Gegend wohnten, so gingen sie auch meist zusammen von der Schule. Und seltsam war es, an Hans getraute sich der Spott der anderen Buben nicht heran.
Der kleine Gerold wurde gewöhnlich von seinem Vater abgeholt, einem schlanken, noch jungen Manne, der immer sehr lieb und zärtlich war zu seinem Buben und ihn meist an der Hand führte. Er ließ sich von den beiden Knaben dann oft erzählen, was der Lehrer in der Schule gesagt hatte, und ging auf alle ihre Fragen ein. Auch nach Georgs Mutter und ihrem Befinden erkundigte er sich jedesmal. Der kleine Georg Bang verehrte Hansens Vater bald von ganzem Herzen.
Manchmal auch wurde Hans von seiner Mutter und von seiner kleinen Schwester aus der Schule abgeholt. Die Mutter war eine sehr schöne Frau mit außerordentlich feinem Teint und die Schwester ein kaum fünfjähriges Kind mit schmalem, zartem Gesichtchen, um das blonde Locken zu beiden Seiten niederfielen. Zierlich und voll zerbrechlicher Anmut war Sephi. Sie und die Mutter gingen stets sehr schön und meistens hell gekleidet. Für Georg Bang waren sie bald der Inbegriff der Vornehmheit, und er war immer ganz stolz, wenn er mit seinem Freunde Hans und dessen Mutter und Schwester gehen durfte. Freilich, große Gespräche wie ihr Mann führte Frau Gerold mit den beiden Freunden nicht. Sie nahm die beiden Jungen vor der Schule in Empfang, zupfte ihrem Hans die Halsbinde zurecht, schob ihm seine Mütze aus der Stirn und ging mit Sephi dann voraus, während Hans und Georg, sich selber überlassen, folgten. Mit einer Art von andächtiger Scheu sah Georg Bang dann auf die beiden, die da vor ihm schritten: auf Frau Gerold, die mit langsamer Bewegung den Spitzenschirm ein wenig hob und dann zurücksah nach den beiden Buben, und auf Sephi, die mit kleinen Kinderschrittchen neben der Mutter herging und von deren fragendem Geplauder manchmal einige Worte ihm verständlich wurden.
An der Ecke der Reisnerstraße trennten sie sich meist, denn Gerolds wohnten da, und Georg Bang mußte noch weiter hinaus, nach seinem alten Hause mit den zwei würdigen Kastanienbäumen im stillen Hofe. Da gab er denn zum Ab-