287
Plötzlich kam er eines Vormittags aus dem Bureau nach Hause —- außer der gewohnten Zeit, so daß die Mutter heftig erschrak — und klagte über Stechen in der Brust und über Hitze.
Georg saß dann neben seines Vaters Bett und spielte. Er war still, und seine Bewegungen waren behutsam und leise. Manchmal schielte er hinüber nach dem Kranken; der hatte ein ganz heißes, rotes Gesicht und atmete schwer. Die Mutter hatte ein Glas mit Limonade auf das Nachttischchen neben dem Bette gestellt, von der trank er gierig.
Mittags kanr der Arzt, und abends kam er noch einmal. Aber das half nichts. Das Fieber wurde immer ärger, das Phantasieren immer dringender. Und da war es seltsam: wie wenn in diesen schweren Stunden tief in der Seele von Tobias Bang vergangene Zeiten erwacht wären, und gleich als ob der Inhalt entschwundener Bilder ihn wiederum mit starker Kraft ergriffen hielte, so sprach der Kranke in Blicken und in Worten zu seiner Frau. Ein Sehnen lag in seinen sieber- heißen Zügen und eine Fülle tiefer Zärtlichkeit, wie schon seit Jahren nicht. Die kleinen Alltagssorgen, die ihn sonst erfüllten, waren von ihm gefallen, wie befreit war sein ganzes Wesen. Marie aber hielt seine unruhvollen Hände und dachte jener Zeiten, da er vor ihrer Türe Abschied genommen — damals, als ihre Liebe in so Heller Blüte stand. So hatten seine Augen sie auch in jenen Tagen angesehen. Ihr war es einen Augenblick, als wären Jahre in ein Nichts entschwunden, als Hütte sich erfüllt und erschlossen, was sie einstens geträumt hatten und was dann ihrem Leben entrückt gewesen war. Tränen standen in ihren Augen, und doch hielt sie bei allem Schmerz des Augenblickes ein tiefes Glücksgefühl ergriffen. Ganz versunken saß sie an dem Bette des Kranken in stiller, wortloser Zwiesprache mit seiner Seele — bis ein leises Zerren an ihrem Kleide sie wieder zu sich selber brachte. Der kleine Georg schmiegte sich an sie.
Zwei Tage nur währte Tobias Bangs Leiden, dann schlief er still hinüber in die Ewigkeit.
Nun folgten tränenvolle, schmerzerfüllte Tage für Marie Bang und ihren kleinen Jungen. Und gerade diese Zeit prägte sich dem Knaben mit seltsamer Schürfe ein, daß er sich später oft selbst darüber wunderte, wie er das alles, was an Vorgängen in diesen Tagen sich ereignete, bis in das Kleinste behalten hatte. Wie er sich jedes Kranzes erinnerte, der da gekommen war, wie er noch genau wußte, welches Kleid die Mutter getragen hatte, und wie er sich noch so klar auf das Gesicht des Vaters entsann, das so seltsam spitzig, kalt und gelb auf den weißen Kissen geruht hatte, ganz anders, als es im Leben gewesen war.
Anfangs war die Mutter ziemlich erschöpft und ratlos gewesen. Sie weinte viel und wußte nicht, was beginnen. Kam der kleine Georg zu ihr, um sie mit seinen zagen Kinderworten zu trösten, oder sah er sie auch nur still und bittend mit den großen, ängstlichen Augen an, so küßte sie ihn unter immer neuen Tränen. „Mein armer, armer Bub!" sagte sie dann: „Wie soll's nur werden mit uns beiden — was können wir nur auf der Welt beginnen >—?" Dann aber, als der Tote aus dem Hause und in der Erde war — da draußen auf dem stillen Friedhofe in Nußdorf, wo der Verstorbene noch von seinen Eltern her ein eigenes Grab besessen hatte — als ein Tag wieder gleich dem anderen verging, als die Bedürfnisse des Lebens nach Erfüllung riefen und die Gewohnheit jene Lücke allmählich überwuchs, die der Tote hinter sich gelassen hätte, da fand auch Frau Marie Bang ganz nach und nach sich selber wieder.
Geleitet von der Sorge um ihres Kindes und um ihre Zukunft, schritt sie, von deren Zügen in diesen schweren Tagen der Rest von Jugend abgefallen war, ins Leben wieder ein. Erst wollte sie die Wohnung kündigen und eine neue, kleinere suchen. Die spärliche Pension reichte dann wohl zusammen mit dem wenigen, was sie von ihrer Mutter noch besaß und was sie sonst durch Sticken feiner Wäsche verdienen konnte,
zu einen: stillen anspruchslos::: Dasein aus. Dann aber, wie sie durch die beiden Zimmer und die kleine Küche ging, wie sie hinunter sah aus den weiten Hof, aus dem die beiden alten Bäume ihr ihren vollen Blütenschmuck von tausend rosarot geflammten Kerzen entgegenstreckten, da war es ihr, als sollte sie mit ihrem Kinde nun ganz entwurzelt werden, wenn sie von hier schiede. Wie ein Stück Heimat schien ihr dieses alte, stille Haus, wie eine Zuflucht vor dem Treiben draußen, in dem sie niemand wußte, der ihr nahgestanden Hütte.
So beschloß sie zu bleiben und das eine Zimmer Zu vermieten. Der Mieter brachte ihr dann wohl so viel, daß sie den Zins bezahlen konnte. Nun wurden die Möbel umgestellt, der große Schrank vor die Türe gerückt und eine Anzeige in die Zeitung gegeben. Frau Marie atmete auf, als das geschehen war. Sie fühlte es: das Schlimmste war nun überstanden, sie hatte ihren Weg vor sich, den mußte sie mit ihrem Kinde gehen.
Eines Tages kan: dann ein Mieter und zog ein.
Er war ein älterer Mann, ein Buchhändler, der seit vielen Jahren in einem wissenschaftlichen Antiquariat angestellt war. Morgens ging er schon zeitig vom Hause weg, und erst am Abend kam er stets pünktlich um halb Acht wieder. Er hatte einen dünnen, gelblichgrauen Bart, trug scharfe Augengläser, die seinem Blicke etwas Schillerndes, Unsicheres gaben, und sprach auf Fragen, die man an ihn stellte, oder auf Reden, die an ihn gerichtet waren, meist nur recht wenig und in unverbindlicher, beinahe mürrischer Art.
Trotzdem hielt die Mutter große Stücke auf Herrn Franz Schneeberger, denn er zahlte pünktlich, war sehr solide in seiner ganzen Lebensführung, schonte die Möbel seiner Stube, wie wenn sie ihm gehörten, und zeigte bei all seiner Ver- pupptheit bald einen Zug, der ihn Frau Bang und ihren: Kinde näher brachte.
Denn manchmal abends kam es seltsam über ihn. Da fand er keine Ruhe, rumorte in den Schiebkästen und unter seinen Büchern, schritt auf und ab und klopfte endlich, wie nach langem Kampfe, bescheiden an die Tür zu dem Zimmer von Frau Bang.
„Darf ich mich hier ein bisserl niederlassen?" fragte er dann jedesmal, und sein Gesicht hatte dabei einen ganz anderen Ausdruck. Es lag etwas Bedrücktes, Ängstliches darin und ein zauderndes Bitten zugleich. Und wenn Frau Bang ihn freundlich einlud, Platz zu nehmen, dann verschwand er schnell auf ein paar Augenblicke, holte sich seine Wurst, sein Brot und sein Glas Bier herüber, brachte seine Pfeife
und seine Zeitung angeschleppt und schien ein anderer zu
sein für ein paar Stunden. Er ließ sich dann bequemlich in den großen Sessel nieder, in den: der Vater früher stets
gesessen hatte, verzehrte da sein Abendbrot mit einer Art von freudigen: Behagen, rauchte dann schmunzelnd seine Pfeife und wurde gesprächig. Er scherzte mit den: kleinen Georg, für den er sonst kaum einen Blick übrig hatte, in seiner ein wenig schroffen, aber gut gemeinten Art, er sprach von seinen Erlebnissen in Leipzig, in Prag und in Stuttgart, wo er in jungen Jahren als Gehilfe gewesen war, und eine Sucht,
ein Drang, sich auszusprechen, eine Befriedigung, jemand zu haben, der seinen Worten lauschte, schien jene Redekargheit, die sein Wesen sonst verschloß, wett zu machen. Manchmal las er auch Frau Marie Bang aus der Zeitung vor, oder er entwickelte ihr seine Ansichten über die Fehler der hohen Politik. Ziemlich plötzlich brach er dann meistens mit einem Blicke auf die Uhr sein Thema ab, griff seine Habseligkeiten, die er herübergebracht hatte, zusammen, murmelte eine Art Entschuldigung, weil er die Stube vollgerüuchert hätte, und verschwand mit kurzen: Gruß. In seinen: Rückzuge lag stets eine unbeholfene Hast, es war, als schämte er sich, daß er Frau Bang einen so tiefen Blick in sich gegeben hatte.
Tage- und wochenlang war er dann stets wieder völlig unnahbar, bis ihn der Drang nach einer Menschenseele, die Furcht vor seine: Einsamkeit aufs neue erfaßten. Frau Bang
30 -