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Dieses kurze Stimmungsbild gibt eine Vorstellung von der Schulung, die die Beamten der Berliner „Großen Elektrischen" genossen haben, um bei Betriebsstörung sogleich selbst tatkräftig
eingreifen zu können. Der ungeheuer kompli- zierteBetrieb — sind doch in ihm 7190 Mann mit 2770 Wagen auf
Abb. 2. Isolreren des Stromes.
Abb. 1. Studienwagen.
103 Linien beschäftigt — kann nur dann ein fach und ohne jede Hast durchgeführt werden, wenn die Beamten auf jedes Vorkommnis vor bereitet sind. Jede Stö- rungsmöglichkeit im Betriebe muß vorbedacht sein, und für jedes Vorkommnis müssen die Beamten genau wissen, was zu tun ist.
Die elektrischen Zentralen mit ihren Stromerzeugern, die elektrischen Wagen mit ihren Bewegungsvorrichtungen und das gewaltige System der Drähte, die die elektrische Kraft kanalisieren, stellen ein technisches Gefüge von höchster mechanischer Kunst dar. Die Schwierigkeit, die diese Schöpfung bereitete, ist fast als klein zu bezeichnen gegen die Umstände, die zu überwinden waren, um eine Armee von ungeschulten Leuten in wenigen Wochen zu zielbewußten Beamten heranzubilden, die sicher und schnell den Gefahren des Verkehrs gewachsen sind.
Es ist gewiß ein verwickeltes System, das hinter den Kulissen einer großen modernen Bühne zur Entfaltung kommt, um den Anforderungen des heutigen Theaters zu genügen. Es ist aber lächerlich unbedeutend gegen den verwickelten Mechanismus, der sich „hinter den Kulissen" einer großen elektrischen Straßenbahn, wie der in Berlin, heraus gebildet hat.
Wer genötigt ist, sich über den Zustand eines großen Körpers, in dem das Leben pulsiert, dauernd klar zu bleiben und die Diagnose über gesund und invalid jederzeit bereit zu haben, muß den ganzen Ausbau — die Physiologie und die Anatomie des Körpers — beherrschen wie ein kluger Arzt den Organismus seines Patienten.
Da ist zunächst das Herz der Anlage: die elektrische
Zentrale, die den Strom liefert (das Jahr 1904 erforderte 49 196 276 Kilowatt). Gewaltige Dynamos, die von Dampfmaschinenriesen belebt werden, erzeugen die immer noch geheimnisvolle Naturkraft. Eine große Zahl blitzender Schaltapparate, von denen jeder ein mechanisches Kunstwerk darstellt, nehmen den elektrischen Strom auf und leiten ihn, durch vielerlei technische Zwischenglieder hindurch, dem mächtigen Drahtnetz zu, das sich über der Millionenstadt
in einer Länge von 690 Kilometern verzweigt. So wird der elektrische Strom wie das Blut in den Adern eines Lebe
wesens nach allen Richtungen zur energischen Kraftbetätigung getragen.
Den eigentlichen arbeitenden Organismus des ganzen Systems stellt das Fahrzeug dar. Es ist mit zwei elektrischen Be
wegungsmaschinen— den Motoren - ausgestattet, die unter
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halb des Wagenkastens in die Achsen der Räder eingreifen und die Bewegung veranlassen.
Von: großen Drahtnetz — von den sogenannten Arbeitsleitungen — nimmt der lange Kontaktarm auf den: Wagen den Strom ab und führt ihn auf verdeckten Wegen über die Schaltapparate des Wagenführers zum Motor. Endlich gelangt er durch Räder und Schienen wiederum zur erzeugenden Maschine auf der Zentrale zurück.
Das Strombild zeigt viel Ähnlichkeit mit dem alten Pferdebetrieb. Wie bei diesem das Pferd von der Station aus immer nach der gleichen Richtung seine Schleifen durchfuhr, um endlich die Station wieder zu erreichen, so durchfließt auch der Strom immer nach der gleichen Richtung seine Drahtkreise. Tatsächlich ist es denn auch der sogenannte Gleichstrom, die älteste und bekannteste Stromart, die dem Betriebe der elektrischen Straßenbahn Leben verleiht.
Zwei Kurbeln am Vorder- und am Hinterperron des elektrischen Fahrzeuges, die immerdar in der Faust des Fahrers rußen, regieren den elektrischen Wagen. Mittels der kleineren von beiden, „der Fahrkurbel", wird die Stärke und Richtung des Stromes so geregelt, wie es der augenblickliche Zustand des Verkehrs erheischt. Sie veranlaßt die Schaltung des Fahrzeuges. Als Hauptgesetz gilt es für den Wagenführer, diese Vorrichtung niemals aus der Hand M zu lassen. Verläßt er den Wagen, dann nimmt er sie mit sich. Fahrkurbel und Fahrer sind so lange miteinander verwachsen, wie der Dienst dauert.
Die große Kurbel belebt die „Luftdruckbremse", die den Wagen unter die Herrschaft des Fahrers zwingt. . . .
Die Fahrer und Schaffner empfangen eine gemeinschaftliche Ausbildung bei der „Großen Elektrischen", die etwa einen Monat währt. Von erfahrenen Fahrmeistern, die die Fassungskraft der Leute geschickt zu treffen wissen, werden die notwendigsten theoretischen Kenntnisse: „von den Wundern der Elektrizität und Mechanik" zunächst „in der Schule" vorgetragen. Vor allem hckl aber hierbei der Satz, daß „grau alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum" sei. Der praktischen Ausbildung der Leute wird daher die Hauptaufmerksamkeit geschenkt.
Oft trifft man in den stilleren Teilen der Stadt auf einen Studienwagen der elektrischen Straßenbahn. Er weist sich aus durch ein Schild mit der Aufschrift: „Bestellter
Wagen" und dadurch, daß sich in ihm ein Dutzend „Straßenbahner" im eifrigen Tun betätigen.
Die Studienwagen werden auch mit Vorliebe zum aktiven Eingreifen abberufen, wenn irgendwo ein unglücklicher Vorfall die Hilfe vieler Beamten erfordert. So sehen wir z. B. auf dem ersten Bild, wie die Beamten damit beschäftigt sind, durch Hebel und andere Vorrichtungen einen Wagen aus den Schienen zu heben, unter den aus Versehen ein junges unglückliches
Abb. 3. Meßwagen.
Menschenkind geraten ist. In diesem Falle handelt es sich allerdings, das sieht man aus den: Gesicht des kleinen Probekandidaten, nur um eine Übung. Die Beamten der „Großen Elektrischen" müssen, wie schon gesagt, auf jedes