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Aber einmal war es der Briefträger gewesen, der geläutet hatte und eine Drucksache für Herrn Franz Schneeberger brachte, und das andere Mal ein Bettler, der mit einem wehmütigen Blick auf sein elendes Schuhwerk und mit eindringlichen Klagen über das schlechte kalte Wetter draußen um ein Paar abgelegte Stiefel bat.
Jeden Morgen, ehe er in die Schule ging, sagte Georg in diesen Tagen: „Heut werden sie kommen, Mutter. Und nicht wahr, wenn es geht, so sag der Sephi, daß sie warten möchten, bis ich wieder zu Hause bin."
Und jedesmal des Mittags, wenn er noch pünktlicher als sonst, noch atemlos vom raschen Treppensteigen, wieder ankam, war seine erste Frage an die Mutter: „Waren sie da?"
Aber sie kamen nicht.
Frau Bang hörte nun wieder auf, erst in den Spiegel zu sehen, ehe sie die Tür öffnete, wenn es draußen schellte, und aus Georgs hastigen Worten, wenn er aus der Schule kam, wurde ein scheuer Blick nach der Mutter, in dem mehr das Wissen der Verneinung als die zaghafte Frage stand.
Sie kamen nicht.
Nur ein kleiner Brief kam — ein Brief aus Areo, in dem Sephi Georg und seiner Mutter mit lieben warmen Worten viele Grüße sandte und sagte, daß sie oft an
beide dächte.
Frau Gerold aber hatte hinter die großen, noch kindlichen und unausgeglichenen Buchstaben Sephis mit ihrer zierlich verschnörkelten weitausgezogenen Schrift geschrieben:
„Liebe Frau Bang!
In dem Trubel all der Dinge, die noch in den letzten Tagen in Wien auf mich eindrängten, war es mir leider nicht mehr möglich, Sie und Ihren Georg noch einmal aufzusuchen. Sie wissen, daß mein Fernbleiben nicht
Mangel an Herzlichkeit und Interesse für Sie bedeutet — ich habe nirgends Abschiedbesuche machen können. Hier
ist es sehr schön, und wer nicht, wie ich, hergekommen
ist, um für einen großen Schmerz Ruhe und Genesung
zu suchen, der könnte sich in all dem blühenden Leben
wohlfühlen. Wir denken oft an Sie. Sephi namentlich
spricht viel von Ihrem Georg. Leider ist das Kind in der letzten Zeit ein wenig kränklich und nimmt mich sehr in Anspruch. Wir werden noch etwa vier Wochen wegbleiben. Da ich aber nicht die ganze Zeit in Arco sein werde, so kann ich Ihnen auch leider keine Adresse angeben. In Wien hoffe ich, Sie nach unserer Rückkehr wiederzusehen. Bis dahin sende ich Ihnen viele Grüße.
Ihre ergebene Malwine Gerold/
Immer wieder lasen Georg und Frau Marie Bang diesen Brief.
In vier Wochen kommt Sephi wieder! dachte Georg
dabei stets aufs neue. Der Gedanke erfüllte ihn und drängte alles andere zurück. Dennoch war Georg ziemlich still und hielt die Freude über diesen Brief in sich. Doch als dann die Mutter wieder in der Küche war und er das Klappern der Töpfe und Geräte wie ein fernes Geräusch herüberklingen hörte, da holte er mit einem leisen Herzklopfen den Schulatlas herbei, suchte Arco auf und maß auf dem Papier mit den gespreizten Fingern die Strecke, die ihn von Sephi trennte.
Als die Mutter dann plötzlich eintrat, um ein Messer aus der Tischlade zu holen, schob er das Buch mit einer raschen Bewegung von sich unter die anderen Bücher. Den Buben, der bisher mit seiner Mutter über alle Dinge stets mit Offenheit gesprochen hatte, hielt ein Gefühl von heißer Scham umfangen. Ihm war es nun, als könnte er's der Mutter nicht mehr sagen und nicht zeigen, wie sehr er sich nach Sephi sehnte, als müßte er das still für sich bewahren. Und dabei ergriff ihn zugleich eine zage Angst, die Mutter könnte sehen, was ihn beschäftigte, sie könnte es aus seinen Augen lesen, aus
seiner Stimme hören. Er sah nicht auf von den Büchern, über die seine Finger nun leise zitternd strichen.
Frau Bang hatte das Tun des Buben schweigend mit angesehen, nun ging sie wieder, ohne ein Wort zu sagen. Nur ihr Blick war sorgend. Sie fühlte, daß in Georgs Wesen etwas rang und litt, und dachte sich: Der arme Bub, er fühlt es eben auch, daß diese sckiöne Zeit, wie er sie dort genossen hat, als der Herr Gerold noch am Leben war, für ihn nie wiederkommen wird.
Und wie sie alsdann wieder in der sauberen kleinen Küche an ihrer Arbeit stand, mußte sie noch immer an diesen Brief und an Frau Gerold denken. Es hatte sie aus den liebenswürdig klingenden Zeilen seltsam befremdend und kühl angeweht. Sie sah, als sie sich diese Worte nun wieder durch die Gedanken gehen ließ, die schöne blonde Frau, die ihre Witwentracht gleich einem neuen Reiz durchs Leben trug, förmlich vor sich.
„Hier ist es sehr schön, und wer nicht, wie ich — —," die Worte des Briefes ließen Frau Marie Bang nicht los, während sie da in einer Pfanne auf dein Herde rührte und dort ein Glas mit dem Tuche abtrocknete. Sie sah die Mutter der kleinen Sephi, wie sie inmitten einer südlichen, blühenden Landschaft stand -— in einer Landschaft, wie Frau Marie Bang sie in dem illustrierten Familienblatt abgebildet gesehen hatte, das sie früher gehalten hatte, als ihr Mann noch lebte. Und sie wußte, daß diese Frau trotz ihrer ernsten Trauerkleidung, und wenngleich es auch erst nach Wochen zählte, daß man ihren Mann begraben hatte, in sich die heiße Lust am Leben trug und die Sehnsucht nach seinen Huldigungen.
Wie das nun alles werden wird? dachte sie weiter. Sephi war kränklich — das arme Kind. Wenn die Frau nur
immer recht lieb und gut zu ihr ist . . .
Auch Herr Franz Schneeberger bekam, als er des Abends bei Frau Bang und Georg im Zimmer saß, den Brief
aus Arco zu sehen. Er rückte sich die Augengläser umständlich zurecht, las ihn und schob ihn dann leise brummend
beiseite. Er war der Mutter Sephis nicht besonders grün und hatte seine Abneigung schon oft geäußert. Und als Frau Bang nun wieder nach dem Briefe griff und dabei meinte:
„In vier Wochen also sind sie wieder hier. . .," da legte
Herr Schneeberger seine Hand auf die ihre und schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen.
„Hier — in Wien — ja vielleicht; das is' möglich.
Aber bei Ihnen und beim Georg — nein. Das is' der
Schluß, liebe Frau Bang, das laß' ich nur nicht ausreden. Die Frau kenn' ich, nach allem, was ich schon von ihr
gehört Hab' — die laßt sich da heroben nicht mehr seh'n." -—
Es war, als sollte Herr Schneeberger mit seiner Prophezeiung recht behalten. Die ersten vier Wochen vergingen, und wieder vier Wochen zogen dahin, aber von Frau Gerold und von Sephi kam keine Nachricht mehr.
Wie nach einem beglückenden Ziele hatte sich Georg nach dem Ablauf der Frist gesehnt, während Frau Gerold im Süden bleiben wollte. Er hatte es die Mutter nicht merken lassen, wie sehr er immer mit dem Gedanken an Sephis Rückkehr beschäftigt war. Beinahe wortkarg war er, wenn darauf die Rede kam; und doch war er stets inr Innersten erregt, und jedes Wort, das fiel, prägte sich ihm tief in die Erinnerung. Dann waren für Georg wieder Tage gekommen, an denen er bei jedem Läuten der Flurglocke erwartungsvoll aufhorchte und, wenn er mittags aus der Schule kam, forschend und mit unterdrückter Erregung nach seiner Mutter blickte. Auch diese Zeit ging vorüber.
Einmal, als er mit verträumtem Gesicht über einem Schulbuche saß und mit den Gedanken überall eher, nur nicht bei den „Bergen und Flüssen der Bukowina" war, sprach ihn die Mutter an. Er zuckte zusammen, denn er hatte
kaum gemerkt, daß sie ins Zimmer getreten war. Sie fragte ihn, ob ihm denn etwas fehlte? Er wäre blaß, zerstreut, verträumt.