Heft 
(1906) 18
Seite
379
Einzelbild herunterladen

379

Er schüttelte den Kopf ihm fehle nichts.

Und Herr Schneeberger, dem Frau Bang nun abends ihre Sorge klagte, sah sich mit vorgeneigtem Kopf unter seiner Brille hervor den Buben eine Weile an und schnob dann mächtig dröhnend in sein rotes Taschentuch.

Unsinn was soll ihm fehlen! Im Wachsen ist der Jüngling. Scharm S' doch nur, was der jetzt in die Höh' schießt! Das sind so Sachen, die in diesen Jahren kommen wie die berühmten Wimmerln auf der Stirn und wie der Stimmbruch. Bei ei'm kommt's früher und beim andern

später. Der eine wird a Flegel in der Zeit und der andere a Schlafhauben. Der Georg schlagt in dieses letztere Fach, und ich muß sag'n, daß er mir so lieber is'. Das geht vorüber, liebe Frau Bang kei' Sorg' deswegen!"

So gab sich denn Frau Bang zufrieden. Wenn Herr Schneeberger, dem doch täglich so viele Bücher durch die Hände gingen, der in ihren Augen selbst ein halber Gelehrter war, das so bestimmt behauptete, dann mußte wohl 'was Wahres daran sein. Und als besorgte Mutter ging sie nun dem Übel, soweit sie das vermochte, mit den kompakten Mitteln der Küche an den Leib.

, Georg, du mußt besser ausschau'n! Du ißt zu wenig, das macht blutarm und kopfhängerisch."

Herr Franz Schneeberger aber nickte dazu und brummte Beifall, wenn Georg mit Müh und Not noch ein Stück Butterbrot und noch einFrankfurter Würstel" bezwang.

Dicker und viel vergnügter wurde er nicht trotz dieser Kur, so daß der Zimmerherr einmal mit ernster Miene und ver­sonnenem Staunen meinte:Wo er's nur hintut, all' die Sach', der Bua, förmlich die Zweifel könnten einem kommen an dem Gesetz von der Erhaltung der Materie. G'rad wie, als ob er irgendwo ein' doppelten Boden hätt'." Und mißtrauisch, als ob er sehen wollte, ob er den doppelten Boden an Georg nicht irgendwo entdecken könnte, sah er mit vor­geneigtem Kopf, hervor unter der alten Brille, den Buben von oben bis unten an.

Oft morgens, wenn er schon wach war, blickte Georg in dieser Zeit lange auf die Photographie des Herrn Gerold, die in dem schmalen Holzrähmchen über dem Bett hing. Wie ähnlich manche von den Zügen mit denen von Sephi waren! Wo Sephi jetzt sein mochte? Hier? -- Aber dann

würde sie doch mit ihrer Mutter gekommen sein. Sie waren vielleicht noch gar nicht in Wien! Vielleicht waren sie noch im Süden oder Sephi war krank geworden, und sie konnten darum nicht zurück. Aber daß so gar keine Nachricht kam! Wenn ihnen am Ende ein Unglück zugestoßen wäre? Die Angst der Ungewißheit kam über ihn.

Nein, nur das nicht! Nur kein Unglück

Unwillkürlich falteten sich seine Hände. Aber er betete nicht, und doch war ihm zumute wie im Gebet. Er sah auf das Bild über dem Bett, in die gütigen, milden Züge des Toten.

An einen: solchen Morgen war es auch, daß Georg, der diese Worte schon so lange in sich getragen und sie aus Schmu und Scheu doch immer wieder unterdrückt hatte, die Mutter- zögernd fragte, ob sie nicht doch einmal nach der Wohnung der Frau Gerold hingehen wollten.

Seine Hände, die eben ein paar Bücher für den Schulgang ordneten, zitterten, wie er sprach.

Aber Frau Bang schüttelte leise den Kopf.

Nein, Georg, wenn sie uns weiter haben wollen, dann müssen sie uns dafür schon ein Zeichen geben. Schau, wir sind arm, und sie sind doch wohl ziemlich wohlhabend auf­drängen dürfen wir uns nicht."

Ünd der große Bub, der dem Mädchen schon so nahe gestanden, daß er die Kluft dieses Abstandes nicht mehr ge­sehen hatte, wurde rot bis in die Stirn, nickte zu den Worten der Mutter und drückte die Lippen fest aufeinander. Gewiß, aufdrängen dürfen wir uns nicht, dachte er, und er vermied es wieder durch Wochen, von Sephi und ihrer Mutter zu reden. Er hoffte auf das Zeichen, das sie geben sollten. Er hoffte und begrub sein Hoffen schweigend und lautlos erst an jenem Tage, da ihm die Mutter, als er mittags nach Hause kam, die Nachricht gab:

Georg, ich war heute im Haus von Gerolds. Ich bin doch hingegangen, schon der Sephi wegen. Die Tafel mit dem Namen Heinrich Gerold ist nicht mehr an der Tür. Ich Hab' geläutet, eine alte Dame hat mir aufgemacht. Sie sagt, daß sie mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter I schon seit sechs Wochen da wohnt. Sie haben die Wohnung auf ein Inserat gefunden. Wohin Frau Gerold gezogen ist, kann sie nicht sagen." (Fortsetzung folgt.)

Luder aus der Entwicklung von Nordamerika?

Lou Ernlt von

ie in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Erschließung der Prärien und Felsengebirge zu dem beispiellosen Aufschwung Ame­rikas die erste Veranlassung gegeben hat, so kam seitdem der Nordwesten, ein Gebiet von nahezu ähnlicher Ausdehnung, an die Reihe. Dort, im Oberlauf des Missouri und im Stromgebiet des Columbiastromes, dehnen sich die Territorien Dakota, Wyo­ming, Montana, Oregon und Washington aus, mit zusammen wieder anderthalb Millionen Quadratkilometern drei Deutsche Reiche. Der sprichwörtlicheWilde Westen" mit seinen In­dianern, Trappern, Büffeljügern, seinen Goldsuchern und Abenteurern war in Kulturstaaten verwandelt, und an seine Stelle war derWilde Nordwesten" getreten. Nach langen Mühen gelang es endlich einem amerikanisierten Deutschen, der seinen Pfälzer Namen Hilgard in Billard verwandelt hatte, die große Northern Pacific Eisenbahn durch die Einöden und Felsengebirge des Nordwestens und dem Columbiastrom fol­gend an die Küsten des Stillen Ozeans zu führen. Diese Berkehrsstraße entlang ergoß sich die Ansiedlung, aber diesmal

*) Lergl. Nr. 14 und 15 des laufenden Jahrgangs derGartenlaube".

Lesse-Wlartegg.

waren es weniger europäische Einwanderer als Amerikaner, die die von ihnen im Westen gegründeten Heimstätten den Ein­wanderern verkauften und als Kulturpioniere nach dem Nord­westen zogen.

Der Ausgangspunkt der Besiedlung waren die Zwillings­städte St. Paul und Minneapolis am oberen Mississippi. Ihre Entwicklung ist mit jener des Nordwestens innig ver­knüpft und gehört zu den interessantesten und wichtigsten Kulturereigniffen unserer Zeit, denn sie ist noch viel erstaun­licher als jene der Prärien oder von Kalifornien. Sie liest sich wie ein Märchen. Man nimmt bei uns in Europa die heutigen blühenden Kulturstaaten Minnesota, Wisconsin und die westlich davon bis an den Stillen Ozean reichenden anderen viel zu sehr als vollendete Tatsache hin, man rechnet mit ihren Produkten, ihrem Handel. Ihr Entstehen aber hat sich so rasch abgespielt, daß man gar nicht die Zeit gefunden hat, dieser Entwicklung zu folgen, zumal es noch kein einziges Buch gibt, das sie schildert. Ich selbst, der ich zum Teil das Entstehen und Wachsen dieser jungen Staaten, das Jnsleben- springen dieser Großstädte mit eigenen Augen gesehen habe