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und selbst mitten in dieser Entwicklung stand, kam nicht dazu, das Geschaute auszufrischen, weil die Tatsachen jede Schilderung — kaum daß sie geschrieben war — bereits überholt haben würden. Und doch ist es an der Zeit, sich damit Zu beschäftigen, denn der Nordwesten, von den Großen Seen angefangen bis an den Pugetsund am Stillen Ozean, ist nicht nur durch seine Produkte für uns von der größten Bedeutung geworden, er nimmt auch auf unsere Absatzgebiete an einer Stelle des Erdballs Einfluß, wo wir es gewiß am wenigsten vermuten würden, nämlich in China, Japan, ja sogar in Indien! Schon heute wird unser Handel dort durch den amerikanischen Nordwesten jährlich um Millionen geschädigt, und diese Beeinträchtigung ist in stetem Steigen begriffen.
Gerade vor 60 Jahren wurde die erste Eisenbahn von Chicago aus am oberen Mississippi vollendet, und sie brachte Ansiedler und Abenteurer nach den neuen Verteilungspunkten des nordwestlichen Verkehrs, nach St. Paul und St. Anthony, wie Minneapolis damals hieß. Von dort war ihr Hauptziel das reiche Flußtal des Red River of the North, der sich auf kanadischem Gebiet in den Winnipegsee ergießt. Dort hatte die alte Hudsonbai-Gesellschaft einen ausgebreiteten Handel mit den Indianern entwickelt. Der Pelzhandel allein brachte viele Millionen ein, doch gab es am Winnipeg keine Verkehrsstraße nach den Vereinigten Staaten. Um diesen Handel zu gewinnen, richtete die Firma Blakely Merrian in St. Paul einen Karrendienst vom Mississippi nach dem Red River ein, den sie bei dem Handelsposten Fargo erreichte. Von dort ging der Verkehr auf dem Flusse nach Winnipeg. So kam der Hudsonbai-Handel nach St. Paul, und nun wurden von Chicago aus gleich zwei Eisenbahnen nach dieser aufstrebenden Stadt gebaut, die 1873 eröffnet wurden. Ebenso suchten die unternehmenden Kaufleute St. Pauls eine Verbindung mit der atlantischen Seeküste mit Benutzung der großen Wasserstraße der fünf kanadischen Seen herzustellen. Der nächstgelegene Punkt dieser Seen war die Westspitze des Oberen Sees, und 1870 war die Eisenbahn dorthin vollendet. Dort entwickelte sich die Stadt Duluth, die ich 1876 als eine bescheidene Bretterstadt kennenlernte. Heute hat sie hunderttausend Einwohner. Der Verkehr hob sich derart, daß heute zwischen St. Paul und Chicago, diesen kleinen Ansiedlungen zur Zeit unserer Väter und jetzigen Weltstädten, sieben Eisenbahnlinien bestehen. Zwischen St. Paul und Duluth gibt es drei, zwischen St. Paul und der jungen Hauptstadt der westlichen Prärien, Omaha, drei. Man ziehe doch einen Vergleich zwischen diesem Eisenbahnnetz und jenem, das zwischen den größten Millionenstädten Europas besteht.
Diese vielen Eisenbahnen brauchten Passagier- und Frachtenverkehr, um ihre Bau- und Betriebskosten zu decken und ihren Unternehmern Gewinn abzuwerfen. Dazu war es vor allem nötig, das Hinterland im Nordosten nach seinem möglichen Ertrag zu untersuchen und zu entwickeln. Dabei stellte es sich in erster Linie heraus, daß besonders die weite Red Riverebene in Minnesota und Dakota, die man bisher als für Getreidebau unfähig angesehen hatte, den denkbar besten Frühjahrsweizen lieferte. Sofort machten sich die Eisenbahngesellschaften, diese vornehmsten Pioniere amerikanischer Kultur, daran, Ansiedler heranzuziehen, in so geschickter Weise und mit so großem Erfolg, daß heute in Minnesota und den beiden Dakotas, die vor einem Vierteljahrhundert menschenleer und großenteils noch in Händen der Indianer waren, nahe an drei Millionen Weiße wohnen. Die Produktion von Weizen, der sie sich hauptsächlich widmen, gehört zu den bedeutendsten Amerikas, und Minneapolis besitzt durch die natürliche Wasserkraft der St. Antonsfälle im Mississippi Gelegenheit, diesen Weizen zu mahlen. In seinen Mühlen können täglich 80000 Faß Mehl gemahlen werden, und die jährliche Produktion erreicht heute 16 Millionen Faß, von denen 15 Millionen im Wert von 200 Millionen Mark allein aus dieser Stadt zur Ausfuhr kommen.
Für diese Mehlmassen sind täglich 80 000 Fässer nötig. Das ließ in Minneapolis große Faßfabriken entstehen, die einer
bedeutenden Menge Holz bedürfen. Nun liegen rings um das Ouellgebiet des Mississippi und seiner Nebenflüsse Fichtenwälder von vielen Tausenden Quadratkilometer Ausdehnung, und da die Flüsse selbst den besten und billigsten Transportweg für die gefällten Stämme darboten, wurde Minneapolis auch der Hauptplatz des Holzhandels, mit großartigen Sägewerken, in denen gleich vier bis sechs Stämme auf einmal mittels einer Bandsäge zu Brettern zersägt werden. Das Holzmaß ist in Amerika ein Brett von einem Zoll Dicke und einem Fuß Breite. In Minneapolis werden nun jährlich 600 Millionen Fuß Holzbretter geschnitten, so daß etwa der ganze Thüringer Wald kaum hinreichen dürfte, den Sägewerken von Minneapolis Holz für ein einziges Jahr zu liefern.
Bei dieser Waldverwüstung, die auch sonst überall in Amerika in sorglosester Weise betrieben wird, war es vorauszusehen, daß die großen Wälder von Minnesota und Wisconsin schon in ein bis zwei Jahrzehnten abgeholzt sein würden. Man mußte sich also nach anderen Wäldern Umsehen, und die ausgedehntesten liegen jenseit der Felsengebirge am Stillen Ozean, in Washington, Oregon und am Pugetsund. Zwischen diesen Wäldern und Minneapolis, dem Ort, wo sie verarbeitet werden, liegen nun Tausende von Kilometern unbewohnten, scheinbar wüsten Landes. Wie sollten diese durch eine Eisenbahn überbrückt werden? Das Unternehmen war geradezu wahnwitzig, und doch wurde es durch die Tatkraft eines einzigen Mannes, I. I. Hill, des größten Eisenbahnstrategen aller Zeiten, mit den glänzendsten Erfolgen zu Ende geführt. Einige Jahre verwendete Hill, der in den fünfziger Jahre durch Dampferlinien auf dem Mississippi ein kleines Vermögen erworben hatte, auf die Durchforschung des „Wilden Nordwestens". Auf Schneeschuhen oder zu Pferde, im Schlitten und Karren durchstreifte er die Jndianergebiete, überstieg die unwirtlichen Felsengebirge, durchstreifte die unendlichen Wälder und erreichte endlich den heute berühmten Pugetsund. Was erfand, bestärkte ihn in seinem Vorhaben, eine nördliche Parallelbahn zur Northern Pacific zu bauen. Dazu waren aber Hunderte von Millionen erforderlich, und das Großkapital wollte die Geldsummen für „Hills Narrheit", wie das Projekt genannt wurde, nicht hergeben, zumal die Regierung jede Geldunterstützung, jede Landschenkung verweigerte. Den Kapitalisten standen die früheren Pacificbahnen als warnendes Beispiel vor Augen. Die eine hatte 400 Millionen aus dem Pankeesäckel verschlungen, die Northern Pacific hatte eine Landschenkung von 40 Millionen Morgen, das ist ein Königreich von der Größe Süddeutschlands und eines Stückes von Preußen, erhalten, und doch waren beide verkracht! Hill aber baute die Bahn dessenungeachtet, ohne irgend eine staatliche Beihilfe, und seine Great Northern Eisenbahn ist eine der glänzendsten Unternehmungen dieser Art geworden. Um Frachten nach Osten zu gewinnen, schloß Hill mit den Waldeigentümern am Stillen Ozean ein Abkommen für viele Jahre. Es fehlte aber an Frachten für die Rückfahrt der leeren Züge, denn der Nordosten ebenso wie der Pugetsund waren ja nur sehr spärlich besiedelt. So ließ denn dieser große Stratege die Länder jenseit des Stillen Ozeans, also China,
Japan, Indien durchforschen und schuf sich dort Absatzgebiete für das Mehl von Minneapolis, Eisen und Stahl aus Chicago, Baumwolle aus dem Süden, Nägel, Glaswaren,
Textilwaren aus dem amerikanischen Osten. Um von den Anschlußbahnen in bezug aus die Frachtsätze unabhängig zu sein, kaufte er große Eisenbahnsysteme auf, baute Dampfer auf den Seen, ebenso wie die größten Frachtdampfer auf dem Stillen Ozean, und besitzt nun heute eine Weltverkehrslinie vom amerikanischen Osten bis nach China, mit einer Menge von Nebenlinien, die seiner Great Northern Bahn die Frachten zuführen. In dem von ihr durchschnittenen Gebiete sind
die größten Eisen- und Kohlenlager entdeckt worden, die er für seine Bahnen ankaufte, und als ich mit ihm und seinem Sohne im vergangenen Jahre den Nordosten durchreiste, fand ich überall blühende Ansiedlungen, bebautes