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Über die Telephon- und Telegraphendrahte von Berlin war in derselben Stunde, in der der Verhaftsbefehl vom Richter ausgesprochen worden war, das Signalement Sixt von Soters an alle zuständigen Stellen weitergegeben worden.
Der Polizeipräsident bekam es auf die Weise und ließ es den Reviervorständen weitergeben, die den Bahnhofsdienst besorgten. Gleichzeitig erhielten es die Schöneberger und Charlottenburger Behörden.
Als Asta am Tiergarten-Tattersall vorfuhr, ward sie von einem Stallmann sogleich gefragt, was denn loswäre, ein Kriminalpolizist hätte sich nach dem Herrn Direktor erkundigt, und der Kutscher Lehmann III. behauptete steif und fest, beide Ausgänge würden von „Schmierstiebeln" bewacht.
Das Bureau war noch auf. Hier verweilte ein Kriminal- kommissarius im Gespräch mit dem Buchhalter. Asta erfuhr, daß auch schon in ihrer Wohnung nachgeforscht worden war, und Zwar vergeblich.
Sie hatte nur den einen Gedanken: sie mußte ihren Vater sprechen, und in dieser Stunde noch. Wenigstens sollte er erfahren, daß sie bei ihrer Aussage noch nichts von seiner Vereidigung gewußt hatte.
Der Kommissarius ließ sich vom Buchhalter die Wirtschaften nennen, in denen Sixt von Soter ab und zu verkehrte. Er begab sich darauf vors Tor, und sofort kamen aus dem Dunkel des Stadtbahnbogens zwei Männer in Zivilkleidern auf ihn zu. Sie erhielten ihre Aufträge und verschwanden.
Inzwischen kam eine kleine Kavalkade aus dem Grunewald heim, ein paar Herren, die in der Begleitung des Stallmeisters Börn einen längeren Spazierritt unternommen hatten.
Sie waren sehr angeregt, herzlich wurde gelacht, als der Sattelmeister feststellte, daß statt der ausgeschickten sechs Pferde nur fünf zur Stelle waren.
„Wer ist denn nicht mitgekommen? Hat's einen Ausbrecher gegeben?"
„Der Ausbrecher war der Herr Stallmeister persönlich. Passen Sie auf, in einer Viertelstunde kommt er mit der Straßenbahn über Halensee nach."
„Stallmeister Börn hat den Schimmelhengst von dem Bankier aus der Fasanenstraße geritten," sagte einer der Stalleute.
„Nanu, mit dem alten Bock wird der Börn doch fertig werden!"
Unter Lachen ward nun berichtet: die Herren waren nach ihrem mehrstündigen Ritt durch den Grunewald in der Wirtschaft von Hundekehle abgestiegen, um einen Schoppen zu nehmen. Die Pferde sollten gerade eingestellt werden, als sie des Herrn von Soter ansichtig wurden. Sie luden ihn ein, an ihrem Satteltrunk teilzunehmen, und er kam anfangs auch mit. Aber plötzlich war er verschwunden. Und als sie zum Wirtschastshof zurückkehrten, fehlte der Schimmel. Sixt von Soter hatte ihn bestiegen und war auf ihm davongeritten. Der Stallbursche, der die Aufsicht hatte, kannte Herrn von Soter als den Direktor des Tattersalls und ließ es geschehen. So kam's, daß der Stallmeister Börn ohne Pferd heimkehrte. Die Herren glaubten, Sixt von Soter hätte ihm nur einen Schabernack spielen wollen.
Aber sowohl Asta als auch der Kriminalkommissarius begriffen sofort, daß es auf anderes abgesehen war.
Eine Art Schüttelfrost packte Asta an, und sie verließ den Tattersall hastigen, unsicheren Schrittes.
Draußen warf sie sich in den nächsten Wagen und fuhr heim.
Sie wußte, daß sie ihren Vater lebend nicht mehr zu sehen bekommen würde.
Als sie in die Wohnung eintrat und Sabine und Theo erblickte, bemächtigte sich ihrer ein dumpfes Bangen, sie blieb an der Schwelle stehen, tief gedemütigt, ganz wund und zerschlagen, unfähig ein Wort Zu sagen.
Aber Sabine kam auf sie Zu und gab ihr die Hand.
Asta knickte da plötzlich zusammen. Schluchzend klammerte sie sich an Sabine an.
„Ich Hab' ihn in den Tod getrieben!" entrang sich's ihrer gequälten Brust.
Sie hörten beide ihre Schilderung. Lange herrschte darauf Schweigen zwischen ihnen. Doch endlich sagte Theo, tief
aufatmend: „Du hast ihn erlöst, Asta!"
In der Frühe des anderen Tages kam über Spandau die Meldung, daß Fischer in der Havel zwischen Pichelswerder und Schildhorn den Kadaver eines Schimmels geborgen hätten. Eine Besichtigung ergab, daß es der Schimmelhengst war, den Sixt von Soter dem Stallmeister Börn abgenommen hatte. Einer der Kriminalbeamten wurde vom Brückenwärter der kleinen Insel darauf aufmerksam gemacht, daß das Geländer in der Nacht mehrfach beschädigt worden war. Beim Eingang zur Brücke war der Erdboden aufgewühlt; man unterschied deutlich die Spuren der Hufe eines Reitpferdes. Nur Vermutungen waren möglich, einen sicheren Anhalt für die Ereignisse dieser Nacht besaß man nicht. Sixt von Soter mochte das scheuende Pferd gezwungen haben, mit ihm über das Geländer in den Fluß zu setzen — sie waren beide in die Strömung geraten und ertrunken. Den Leichnam des Flüchtlings fand man erst am zweiten Tage bei Lindwerder, ein paar Kilometer weiter am seeartig erweiterten Flußlauf der Havel.
Die großen Überraschungen, die der Prozeß Gernot aufgewühlt hatte, verloren auch für die weitere Öffentlichkeit so bald nicht an Interesse und an Spannung.
Die Staatsanwaltschaft hatte sich das Aktenmaterial des Prozesses ausliefern lassen. Eine Zeitlang hieß es, es würde zu einer Anklage gegen den Baron von Gamp und seine geschiedene Frau wegen Verschleierung des von Soter verübten Betrugs kommen. Dann sprach man darüber: es schwebe eine Anklage gegen den Zeugen Bogladki wegen Falscheides. Eine erneute Vernehmung des Stallmannes durch den Untersuchungsrichter fand auch wirklich statt. Man entließ ihn aber, ohne daß von der Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn erhoben wurde. Aber in einigen Blättern beschäftigte man sich noch eine Weile mit dem Thema: „Geistig Minderwertige als Zeugen vor Gericht." Denn Bogladki hielt nach wie vor daran fest, daß die Lethe! in jenem Sommer den Stall IV erst am 23. Juni verlassen hätte.
Bon einem Strafverfahren gegen das geschiedene Ehepaar, das in der ganzen Angelegenheit im Brennpunkt des Interesses gestanden hatte, verlautete dann nichts mehr. Man hörte aber kurze Zeit darauf, daß der Baron von Gamp, der eine angesehene Stellung in der Direktion einer Frankfurter Automobilfabrik bekleidete, sich mit seiner geschiedenen Gattin wieder vereinigt hatte.
Gernot und seine Tochter verlebten die nächsten Wochen auf Reisen. Sabine war Wpschnewskis Braut. Aber sie wollte dem geschäftigen Interesse der vielen Freundschaften, die ihr nun aus dem plötzlich wieder versöhnten Verwandtenkreise ihres Bräutigams entgegenbracht wurden, entgehen.
Da ihre Adresse öfter wechselte, folgten ihnen die Briefschaften von Ort zu Ort. Ein Schreiben, das Astas Handschrift aufwies, erreichte sie an einem Herbstmorgen, den sie am Genfer See verlebten.
Es lautete:
„Liebe Sabine! — Meine Glückwünsche kommen aus der Stille eines kleinen Heims, das in nichts mehr an die Asta von früher erinnert. Theo hätte dem ^Paradiesvogels wie er mich einstmals nannte, kein goldenes Gebauer beschaffen können. Die Zeit hat die Wünsche ausreifen lassen. Sie sind nun äußerlich kleiner — und leichter erfüllbar. Aber die Asta von heute würde mit dem Paradiesvogel auch nicht mehr tauschen. Dem armen bunten Wildfang der Fremde hing sein prächtiges Kleid wie eine schwere Last auf den Flügeln. Nun erst kann er frei die Schwingen ausbreiten Zu neuem, geradem, sicherem Flug in klare Luft. Ihr beide,