Heft 
(1906) 19
Seite
408
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Oer blaffe Merk.

Ariunnalgeschichte

von Hans Hyan.

n einem nebeligen Wintermorgen sprang gerade unter dem Stadtbahnbogen des Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin ein junger Mensch vom Omnibus herunter, wobei er ausglitt und hinfiel.

Er erhob sich so schnell wie möglich dicht vor einem Droschkenpferd, das der Kutscher nur mit Mühe pa­rierte, und sprang aufs Trottoir. Dann ging er brummend in die stillere Georgenstraße hinüber, wo er sich den Schmutz von seinem langen, grünen Paletot klopfte.

. . . Viel zu auffällig war die Pelle Aber was will man machen, in Plötzensee^) ist die Auswahl nicht groß. . . ."

Der junge Mensch griff in die rechte Seitentasche und zählte mit den Fingerspitzen, deren Feingefühl bei ihm weit mehr entwickelt war als bei anderen Menschen, sein Geld. . . . Drei Mark sechsundachtzig. Er fühlte ganz deutlich das fettige Kupfer . . . und es wurde nicht mehr! In einem Jahr kann man da draußen eben nicht viel sparen! Na, das sollte nu nicht lange dauern, heute abend mußte er schon 'n feinen Winterpaletot haben oder womöglich 'n Pelz und natürlich auch'n tipptoppen Zylinder! Aber vorläufig erst mal was essen, drüben in der Stehbierhalle.

Während er einige Brötchen verzehrte und sein Glas Bier trank, fiel ihm ein schwarzer Hohenzollernmantel auf mit Bieber­kragen und ganz neu, wie es schien . . . wahrscheinlich gehörte er dem, der da hinten am Telephon stand und keinen Anschluß kriegen konnte.

Er brauchte bloß tauschen, das ging eins, zwei, drei! . . Aber nee, Lumpen soll man bezahlen, dabei geht man am leichtesten vaschütt^) ... Ob denn 'ne Paddel drin war?

Er zog seinen Überzieher aus, und indem er den anhing und den schwarzen Mantel mit seinem Leibe deckte, visitierte er dessen Taschen ... ne offenbare Pleite!

Dann ging er hinaus in die Toilette und sah dort einen alten Herrn, der sich die Hände wusch. Der Alte sah nicht gerade übermäßig wohlhabend aus, aber den Taschendieb kitzelte es förmlich, nach so langer Zeit zum ersten Male wieder seine Geschicklichkeit Zu erproben.

Sie haben sich da weiß gemacht," sagte er,gestatten Sie?"

Und er klopfte vorsichtig, aber ausdauernd mit der Linken auf dem ganz sauberen Gehrock herum. Seine rechte Hand befühlte inzwischen die beiden Schoßtaschen, die leer waren, und glitt sanft über die Hintere Hosentasche, in der viele Herren ihre Börse tragen ... ein paar Schlüssel und ein harter Gegenstand, der ein Messer zu sein schien, weiter nichts.

Danke bestens, danke!"

Der alte Herr verließ den Raum, und der Taschendieb folgte ihm auf dem Fuße. Im Lokal zog er rasch seinen grünen Frühjahrspaletot wieder an und wollte eben hinausgehen, da hörte er, vorn am Ausschank vorübergehend, vor dem eine ganze Anzahl von Herren stehend ihr Bier tranken, wie jemand leise sagte:Ah, der blasse Albert!"

Er drehte sich um und sah einen ihm aus dem Gefängnis bekannten Zocker^), der ihm jetzt lächelnd zunickte.

Aber der Paddendrücker^) erwiderte den Gruß nur mit einem Senken seiner schweren, bläulichen Augendeckel, als wollte er sagen: Störe mich nicht, ich bin auf der Fahrt^)! Und der andere verstand ihn.

Draußen schien jetzt die matte Wintersonne hernieder und erweichte die dünne Eiskruste, daß es anfing, auf den Straßen naß und schmutzig zu werden.

Der blasse Albert sein Gesicht mit den schwachblauen Augen, der schmalen, durchsichtigen Nase und der besonders über die Wangen straffgespannten, weißgelblichen Haut recht-

i) Sonunerpaletot. ^ Strafanstalt bei Berlin. ^ Kleider. ver­haftet werden. 6) Portemonnaie. 6) Spieler. ?) Taschendieb. 8) Diebstahl.

fertigte diesen Schemen^) der blasse Albert schlenderte wieder die Friedrichstraße entlang, blieb hier und da vor einer Auslage stehen, ging dann wieder weiter und gab sich ganz das Ansehen eines harmlosen, jungen Menschen, dem es Spaß macht, seine überflüssige Zeit zu vertrödeln.

Die Hände hatte er in die Paletottaschen versenkt, deren linke den Kneifer^) und den Ring barg. An dem Ring hatte er gestern den ganzen Nachmittag gearbeitet: eine Art Siegel­ring, wie man sie für fünfzig Pfennig kauft. An den wird an der Seite, die in der Hand liegt, eine haarscharf geschliffene Federmesserspitze fest angelötet. . wozu? Na, wenn manchmal eine Paletot- oder Rocktasche von außen aufgemacht werden muß. . Die Hand gleitet darüberhin ritz! Und dann kommt die Plattmolle H) auf den Körperdruck des Gemachten von ganz alleine! . .

Der Paddendrücker hielt wieder an vor einem Schaufenster ... zu lächerlich, was er sich alles für Hirngespinste im Kittchen^) gemacht hatte, von ehrlich werden und so . . . arbeiten! . . Haha . . aber natürlich, bei Rumfutsch ^) und blauem Heinrichs) und bei den ewigen Hausstrafen ^), da kommt man auf so'ne Albernheiten . . arbeiten! . . Hat sich was zu arbeiten! . . Gewiß, arbeiten tat er ooch, aber uff seine Weise! . .

Er ging etwas weiter und stand vor einem eleganten Maßschneidergeschäft, dessen schicke Anzüge und moderne Stoffe sich in den Spiegeln des Schaufensters kokett verdoppelten.

Ordentlich wütend betrachtete er sein eigenes, ziemlich schäbiges Abbild in dem grausilberigen'Glase . . und was für einen gemeinen Hut er aufhatte! . . Ekelhaft!

Die Tür des Geschäftes ging auf, ein Herr trat heraus und blieb vor dem Schaufenster, dicht neben dem blassen Albert, stehen. Aus der Art, wie der Feingekleidete sich ver­gewissernd nach der Seite faßte, hatte der Taschendieb gesehen, daß jener sein Portemonnaie wahrscheinlich in die andere, ihm abgewandte Rocktasche hatte gleiten lassen.

Der blasse Albert wartete einen Augenblick, bis auf dem schmalen Trottoir mehrere Leute hinter ihnen vorbeigingen, dann trat er ruhig hinter dem die Auslage noch immer interessiert Betrachtenden herum auf dessen andere Seite. . Und während dieser zwei Schritte hatte seine Hand, spitz wie der Schnabel eines Storches, sich in die Paletottasche neben ihm gesenkt und das Portemonnaie eskamotiert, das dann, als wäre es plötzlich zum lebenden Wesen geworden, blitzschnell in seine eigene Tasche schlüpfte.

Der Paddendrücker stand bewegungslos. Da traf sein wieder in die Spiegel hineintauchendes Auge ein Bild, das sein Herz­blut erstarren machte . . drüben auf der anderen Straßenseite . . zwei Greifer^), die er gut kannte, die knechteten^) . . . sie wollten rüber, ein Lastwagen sperrte ihnen den Weg. .

Und nun Sekunden, in die sich alles zusammendrängte! Sollte er teilachen^)? Unsinn! Mit einem einzigen, leichten Satz sprang das Portemonnaie wieder aus seiner in die Tasche seines rechtmäßigen Besitzers zurück. . .

Einen Augenblick später hörte er eine kräftige Stimme etwas gedämpft hinter sich sagen:Ach mein Herr, sehen Sie doch mal nach, ob Sik. Ihr Geld noch bei sich haben!"

Nee, Sie nich!" meinte der andere von den beiden Kriminalbeamten, als der blasse Albert sich jetzt mit gut­gespieltem Erschrecken rasch umdrehte, und blieb dicht an seiner Seite.

0) Spitznamen. ^ kleines, scherenartiges Instrument, mit dem die Uhr- und Börsenketten abgekniffen werden, ^) Brieftasche. ^ der bestohlen ist. Gefängnis. ich Gemenge von gekochten Hülsen- srnchten. ich Reis in Wasser gekocht. ^ Die von der Gefängnis- verwaltung für kleinere Vergehen verhängten Strafen. Kriminal­beamte. id) schürf hersehen. ich auskneifen.