Heft 
(1906) 19
Seite
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Der Herr hatte sich eben entfernen wollen. Auch er griff auf die Anrede des Beamten, sichtlich überrascht, mit beiden Händen in seine Taschen. Aber die Spannung in seinem nicht sehr gescheiten Gesicht ließ sofort nach, und, offenbar erleichtert, sagte er:Mein Portemonnaie ist da!"

Dabei traf ein mißtrauischer Blick den blassen Albert, der ihn voller Entrüstung erwiderte.

Ist auch das Geld drin?" fragte der Beamte.

Der Herr sah nach.

Jawohl ... mir fehlt nichts . ."

Na, ich danke bestens."'

Der Herr ging rasch weg, und mit einem harten, miß­trauischen Lächeln zurückblickend auf den blassen Albert, ent­fernten sich auch die Beamten. Der Taschendieb blieb ruhig noch stehen, bis die Passanten, die aufmerksam geworden waren, ihren Weg fortsehten. Dann ging er ebenfalls.

*

Als der blasse Albert seine Wohnung, die im Norden der Stadt lag, schon erreicht hatte, konnte er sich noch nicht erholen. Das hatte ihn zu sehr mitgenommen. Und die alte Frau, bei der er wohnte, sagte sofort:

Na, Sehnchen, wer hat dir denn uff de Pantin' jetreten?"

Die Alte war jahrelang eine berüchtigte Hehlerin ge­wesen. Aber nachdem ihrda hohe Herr Jerichtshos" beim letzten Mal drei Jahre Zuchthaus aufgepackt hatte, war sie endgültig gebessert.

Nee, nee," sagte sie immer, wenn einer ihrer alten Freunde wieder etwas brachte,ick will meine ollen Tage in Ruhe jenießen! So viel wie ick brauche, um mir mal in' Stift inzukoofen, Hab' ick det heeßt uff de Bank, hier in meine Wohnung, da kann eena lange suchen, da is nischt zu sind'n! ün sonst vamiet' ick an bedürftije Kollejen, die jrade in Bruchs) sind ... ick Hab 'n Herz vor meine Mitmenschen."

Trotz diesesHerzens" ließ sie sich aber jeden Tag einen Taler für Kost und Logis bezahlen, und wer mehr als einen Tag im Rückstand blieb mit der Zahlung, der flog unweiger­lich raus.

Da haste also nebenbei jefaßt," sagte die alte Frau, die jeden mitDu" anredete, nachdem ihr der blasse Albert rück­haltlos. alles erzählt hatte.

Ja, nu wissen Se, Mutta Pfeifern, ick kann Ihn' ja nich sagen, wie mir war. Dis war plötzlich, wie wenn ick Eis in de Adern hatte . . . un dabei war ick janz ruhig, ick sah' mir fermlich selba, wie ick die Padde wieder retour schob. . . Aber denn, wie ick wech wa, da hat's mir in alle Adern jerieselt, wie in so 'ne Waffaleitung . . . un mein Herz schlägt jetzt noch, fühlen Se bloß mal, Mutta Pfeifern."

Die alte Frau legte ihm die Hand auf die Brust und sagte:Ja, ja, du sehst ooch blaß aus, Sehnchen, un et kommt ma vor, als wennste auch bedeckend magerer jeworden werft, seit wa uns nich jesehn Ham ... so jelb sehste aus."

Der blasse Albert nickte.

Det hat der Dockta in de Metz// ooch jesagt. Er meente, wenn ick noch mal wiederkäme, denn sollte ick man lieber vorher schon mein Testament machen . . . un et is ja ooch keen Wunda. Denken Se denn, Mutta Pfeifern, ick habe dadrin wat essen kenn'? Un ewig erkältet! Jetz, wo ick draußen bin, da is ma wieder janz wohl."

Die alte Frau lachte.Ja, aber wie lange?"

Na, so leichte kriejen se ma nich wieda!"

Ach, jeh doch ab! . . . Det sagt vorher jeda! . . . Bis eenes schenen Dages de Fauler// da sind un holen 'n ab! Jlob ma man, bei det janze Jeschäft kommt nischt raus. Ick habe noch keenen jesehn, der dabei reich jewor'n is . . . un im übrijen, du weeßt doch, Sehnchen, jestan haste ma schon bloß fuffzehn Silbajroschen jejem, wenn de bis morjen früh nich allens beduftet hast, denn mußte raus."

20 ) Not, Bedrängnis. 21 ) Plötzenseer Zuchthaus. 22 ) Kriminalbeamte. 1906. Nr. 19.

Der blasse Albert ging in seine Kammer und setzte sich auf die schmale Eisenbettstelle. Er hatte immer noch diesen Angstgeschmack in der Kehle, als wenn er die Nacht hindurch geschwiemelt hätte.

Der Himmel hatte sich wieder bezogen. Es sah aus, als ob es schneien wollte. In der Kammer war's kalt. Den blassen Albert schauderte es. Dann machte er gewohnheitsmäßig seine Übungen, wie er sie von seinem ersten Komplicen und Lehrmeister, einem russischen Juden namens Laberstein, vor Jahren gelernt hatte.

. . . Den linken Arm halb ausstrecken ... die Hand fläch und die Finger leicht gespreizt, so nu 'n Kantel rüber­legen- da darf sich nichts dran rühren! Die sogenannte Brücke . . aber der Kantel schwankte, er wäre beinah runter­gefallen. Und das kam von der Angst. . . 'n Dieb darf keine Angst haben und der Paddendrücker am allerwenigsten!

Bestürzt ging er wieder in die Stube zu der Alten, um noch einen Versuch zu machen. Ein gleichgültiges Gespräch mit ihr anknüpfend, erlauerte er den Moment, wo er ihr den Haarkamm, der das spärliche graue Haar über dem runden, faltigen und ränkesüchtigen Gesicht zusammenhielt, zoddelr// könnte. Diesen Spaß hatte er sich früher oft gemacht und immer hellauf gelacht, wenn die Alte erst lange, nachdem der Kamm fort war, sagte:Mir trudelt die Wolle runter, Sehnchen, hast ma woll wieder den Kamm jeklaut, wat?"

Heute sagte sie in demselben Moment, wo er Zugriff, un­wirsch:Laß doch det! Nachher sind wieder Haare mang die Suppe!"

Und er ließ es und ging wortlos hinaus.

Wo sollte er bloß Drah// hernehmen? Denn vorläufig war doch nich dran zu denken, daß er wieder auf die Fahrt ging . . er wollte doch nicht mit Gewaltalle wer'n"//

Bedrückt und von der Angst jener Leute befallen, die durch einen Unglücksfall plötzlich ihrer gesunden Glieder be­raubt sind, die sie zu ihrer Arbeit gebrauchen, stieg der Taschendieb die vier engen Steintreppen der Mietkaserne hin­unter und trat fröstelnd auf die Straße . . wie hatte er sich das ganze Jahr lang nach der Freiheit gesehnt! Nun wußte er nichts damit anzufangen. Etwas wie Heimweh beschlich ihn nach dem großen, roten Gebäudekomplex, dessen hohe Mauern und kleine, vergitterte Fenster der ganzen Gegend den Charakter des Ernstes und der Strenge verleihen. Und doch wollte er nicht zurück, um keinen Preis der Welt. Eine Ahnung sagte ihm, daß hinter den mächtigen Toren des Ge­fängnisses der Tod auf ihn warte. . .

Vielleicht versuchte er's mal wieder, das Handwerk zu stoßen,^) hatte ja früher auf der Walz// manchen schönen Groschen mit Talpher// zusammengebracht.

In den ersten Barbierladen ging er hinein.Ein fremder Barbiergeselle ..."

Der Meister, der allein im Laden war und jemand be­diente, während mehrere Kunden warteten, gab ihn: zehn Pfennig und meinte:Hütten Se nich Lust anzufangen, ich brauche gerade 'n Jehilfen!"

Der blaffe Albert besann sich einen Augenblick. Aber­gläubisch, wie die meisten seines Metiers, hielt er diese Auf­forderung für einen Wink des Schicksals . . warum sollte er denn nich wieder mal arbeiten?! Er könnte ja jeden Tag wieder aufhören! So zog er seinen Paletot aus, wusch sich die Hände und fing an zu rasieren.

Da er mal eine gute Lehre gehabt hatte, verstand er sein Fach und war an Sauberkeit gewöhnt. Deshalb gefiel es ihm auch nicht in diesem Vorstadtgeschüft. Wenn du schon arbeitest, sagte er sich, dann wenigstens da, wo du hingehörst!

So blieb er bis zum übernächsten Sonnabend, nahm dann Geld und Schein von dem Prinzipal, der ihn gern behalten hätte, und ging am Montag darauf in den Arbeitsnachweis der Innung nach der Alten Jakobstraße.

23 ) wegnehmen. 2^ Geld. 25z verhaftet werden. 26) hei den Hand­werksmeistern ansprechen oder betteln. 27) Wanderschaft. 28) Betteln.

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