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gern!" Jur Gegenteil, hier hungern täglich viele, viele Menschen, so gut wie in anderen Ländern. Und nicht etwa die hungern, die nicht arbeiten wollen, oh nein, die haben das Betteln und Stehlen bald genug heraus! Die Hungernden sind die, die sich nicht geltend zu machen verstehen, die von Abweisung zu Abweisung irren, mit wunden Füßen und krankern Herzen.
Manche haben auch durch irgend ein Vergehen, das ihnen nun, wie ein Bleiklumpen, an ihrem Fortkommen hängt, ihre Mißerfolge verschuldet. Aber was heißt das? Ist die Gefängnisstrafe nicht Sühne genug? Muß ein Mensch für eine kleine Unterschlagung mit seinem Leben büßen? Und dann der Trunk, der Alkohol! . . . Das Elend, das der Fusel in die Welt bringt, ist ganz unübersehbar groß! Vielleicht auch nie ganz zu heilen — wer weiß? . . . Aber da kommt dieser prächtige alte Mann und bettelt Groschen bei Groschen zusammen, bis er es fertig bringt, dem Arbeitslosen Arbeit, dem Säufer Heilung und dem vom Laster und Müßiggang Angefressenen Rettung und neue Kraft zu geben!
Rüdnitz heißt das kleine Dorf hinter Bernau, das ausersehen wurde, um der'neuen Kolonie Hoffnungstal Raum und den für die neuen Zwecke so nötigen Boden zu geben.
Wenn man in Bernau den Zug verläßt, kommt man durch welliges Land, bald zwischen Kornfeldern und an märkischen Krüppelkiefern vorbei, in einstündigem Wege dorthin. Das Dorf ist, wie die meisten kleinen Markdörfer unscheinbar, nicht von übermäßigem Reichtum zeugend. Und die Rüdnitzer sollen sich recht energisch gesträubt haben gegen die Nachbarschaft der „Asplisten". Denn in der Tat handelt es sich um Leute, die vom Berliner Asyl für Obdachlose auf ihre Anfrage und Bitte hingewiesen werden nach Hoffnungstal.
Diese Kolonie unterscheidet sich aber von der großen Anzahl anderer, die aus v. Vodelschwinghs Antrieb und durch ihn selbst im Reich gegründet wurden, in mannigfacher Weise. Einmal ist hier nur ein rein landwirtschaftlicher Arbeitsbetrieb vorhanden; der
Vorwurf, den man -pM
anderen, besonders der Berliner Kolonie macht, sie wirke durch ihren so gut wie gar keine Löhne zahlenden Fabrikationsbetrieb als lästige Konkurrenz — der ist hier also . , ^
nicht am Platze.
Dann ist in Hoffnungstal, man möchte beinahe sagen, der Komfort größer. Und man soll nicht sagen, „Bettler" brauchen keinen Komfort. Es sind eben keine Bettler mehr, sobald man sie in Hoffnungstal ausgenommen hat! Sie müssen und sie wollen auch arbeiten. Und wer arbeitet, soll nicht nur essen, er soll auch seine bescheidene Freude am Leben haben!
„Gewiß," sagen v. Vodelschwinghs Gegner — er hat deren eine große Anzahl — „wer arbeitet, will sich auch mal
Beim Auspacken.
Gang zur Fewarvett.
amüsieren! Und das kann man nicht bei den Pfennigen, die die Arbeiterkolonie als Lohn zahlt." Ganz recht. Aber sind es denn Arbeiter, die hinauspilgern nach Hoffnungstal oder sonst in eine Kolonie und da Arbeit suchen, in den: Sinn, wie der ruhige, nüchterne, gewandte und brauchbare Mensch
sich hier oder dort nach einer lohnenden Existenz umsieht? Nein, keineswegs! Es sind zum größten Teil schiffbrüchige, völlig verkommene Existenzen, Leute, die nie ein geordnetes Leben geführt haben oder die durch Gott weiß welche Umstände aus ihrer Bahn gerissen, nun absolut nicht mehr Kraft und Mittel finden, den schweren Kampf ums Dasein, der jeden Tag den ganzen Mann erfordert, zu kämpfen. Die kommen zu diesem greisen Jüngling, der ihnen noch sein spätes Alter opfert, und sagen: „Hilf uns!"
Und da zeigt er den Verzweifelnden, daß ihre Arme noch stark, daß ihre Leiber noch brauchbar sind für den Streit gegen das Elend! Freilich, auch Leute, die der Winter am Tun hindert, die auf der Wanderschaft brotlos werden und die die große Welle, Arbeitsnot geheißen, zeitweilig auf den Strand wirft, auch die kommen. Und diesen Männern würde gewiß jeder gern ihren normalen Lohn zahlen. Aber der Teufel gibt mehr, als er hat! Selbstverständlich, es finden sich so „tüchtige und kluge" Rechner, die noch einen hübschen „Verdienst" für die Kolonie herausrechnen. Und wenn, wie in Hoffnungstal, eine Einnahme aus der Kolonie in den ersten fünf Jahren überhaupt nicht herausschaut, so trösten sich diese Propheten mit der Zukunft, die goldene Berge verheiße . . . Eine immer wieder zu Angriffen benutzte Bestimmung der Koloniesatzungen besagt, daß der verdiente Lohn, der sich mit der Zeit steigert, erst nach einem gewissen Termin zur Auszahlung gelangt, und daß Leute, die vorher fortgehen, Lohnansprüche nicht haben. Der Gründer der Kolonie und seine Helfer haben für diesen Entlohnungsmodus sicherlich ihre guten Gründe gehabt. Aber es scheint auch mir, der ich ganz vorurteilslos an die Betrachtung jener Institution herangehe, doch, als sei es richtiger, daß man selbst nur scheinbare Ungerechtigkeiten vermeide. Diese Gepflogenheit erinnert zu sehr an ähnliche Bestimmungen von Geschäftsfirmen, bei denen Pensionsbeiträge erhoben werden, die Leute, die eine bestimmte Anzahl von Jahren nicht im Betriebe bleiben, aber einfach leer ausgehen. Was ein Mensch auch tut — das, was ihm einmal als Arbeitsverdienst zugesprochen wurde, das ist man ihm schuldig zu zahlen. Andere Abkommen sollten nicht getroffen werden! Um so mehr, als der Arbeitnehmer beim Abschluß des Vertrages sich fast stets in der Zwangslage befindet! Die Arbeiterkolonie Hoffnungstal, deren Baulichkeiten sämtlich aus doppelten Schalbrettern mit