Heft 
(1906) 26
Seite
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I. P. Müller, der dänische Apostel der Gymnastik, der die Forderung aufstellte, daß jeder Mensch fünfzehn Minuten täglich Leibesübungen widmen soll, wendet sich gegen die Meinung, daß dadurch nur jüngeren Leuten in erheblicherem Maße geholfen werde. In seinem BüchleinMein System" führt er Beispiele an, wie ältere Leute durch Gymnastik gekräftigt wurden. Der Vater der russischen Athletik, Ladislaus Krajewski, schreibt er, wurde 1841 geboren, erlangte 1866 die medizinische Doktorwürde und wurde Hofmedikus. Durch große Praxis überangestrengt, fing er 1885 an, Leibesübungen zu betreiben, mit dem Erfolg, daß er 1895 (64 Jahre alt) 96 Pfund mit einer Hand und 170 Pfund mit beiden Armen stemmen konnte. Ferner zitiert er folgende Mitteilung von Prof. Sargent an der Harward Universität in den Vereinigten Staaten:In mehreren Fällen habe ich Männer von über 60 Jahren durch systematische Übungen größere körperliche Kraft und größeres Körpermaß und Gewicht gewinnen sehen. Mr. Smith Robertson, 68 Zoll hoch, 140 Pfund schwer, fing an, Hantelübungen zu treiben, als er 69 Jahre alt war. Er übte drei Jahre lang täglich 10 Mi­nuten und ging dann 7 bis 8 Kilometer. Nach Verlauf dieser Zeit, er war also damals 72 Jahre alt, war er 160 Pfund schwer ge­worden, während seine Brustweite von 36 auf 40 Zoll gestiegen und alle Muskeln im Verhältnis dazu gewachsen waren. Als er 83 Jahre alt war, schrieb er mir, daß er noch ebenso leicht gehen und laufen könnte, wie vor 60 Jahren."

Mäßigkeit im Essen und Trinken, Leibesübungen, Aufenthalt in frischer Luft durch fleißiges Spazierengehen, das sind die Verjüngungs­mittel, die den frühzeitig Gealterten zur Verfügung stehen. Freilich muß dabei vor Fehlgriffen und Überanstrengung gewarnt werden. Wer sich entschlossen hat, mit dem alten Schlendrian zu brechen, der wende sich zunächst an seinen Arzt und lasse sich untersuchen. Sind seine inneren Organe wirklich erkrankt, dann wird der Arzt ihm die nötigen Verhaltungsmaßregeln geben. Handelt es sich aber nur um Schwäche, die namentlich durch sitzende und unzweckmäßige Lebensweise verursacht wurde, dann frischauf ins neue Leben! Die

Elastizität und Schnelligkeit der Jugend sind natürlich dahin; aus das Herz ist Rücksicht zu nehmen, und die Übungen müssen in lang­samem Tempo geschehen und dürfen nur allmählich gesteigert werden. Was die Jugend im Sturm gewinnt, muß das Alter durch Ausdauer zu erreichen suchen. Darum gestalte sich auch der Übergang in der Ernährung, im Essen und Trinken, zu einfacherer Kost allmählich. Es ist nicht immer gut, brüsk mit allen Gewohnheiten zu brechen. Viele tun es und erlangen das Gegenteil von dem, was sie erstreben; der Körper verträgt nicht die plötzliche Revolution, und es stellen sich Störungen ein, die den bisherigen Zustand verschlimmern können.

Hat man aber einmal die erforderliche Lebensweise erlangt, und sind inzwischen die Greisenjahre gekommen, so muß man sich ganz besonders hüten, von dem regelmäßigen Lebenswandel abzuweichen, das Uhrwerk des Körpers ist starr geworden und will seinen ge­wohnten Gang haben.

Wichtig sind diese Verhaltungsmaßregeln namentlich für die große Schar der geistigen Arbeiter, der Bureaumenschen; denn sie erhalten nicht nur den Leib gesund, sondern auch den Geist frisch. Von allen wichtigen Organen des Körpers altert unter normalen Verhält­nissen das Gehirn am spätesten. So spüren auch diese Arbeiter am wenigsten die Last des Alters; denn länger als andere können sie schaffenslustig bleiben und sich ihrer Leistungen erfreuen.

Noch nicht zu spät! Das mögen sich die Älteren zu Herzen nehmen, die auf falsche hygienische Bahn geraten sind. Schlimm wäre es aber, wenn die Jugend daraus die Lehre ziehen wollte, jetzt die Zügel schießen zu lassen, da es ja noch später zur Umkehr Zeit sei. In tollem Lauf kann der Lebenswagen plötzlich scheitern, und eine schlecht verwendete Jugend bringt immer Schaden. Ihr Ideal muß sein, so zu leben, daß man an ihr auch im späteren Alter keine Rettungsversuche zu machen braucht. Harmonisch Leib und Seele ausbildend, sei sie eingedenk des alten Sprüchleins:

Wenn die Jugend weise wüßte.

Was das Alter haben müßte,

Sparte sie so manche Lüste."

Die Schöpsungstage.

Mit Illustration von Heinrich Larder. V?)

Von Wilhelm Bölsche.

ir saßen unter der Düne und träumten ins Meer hinaus. In unendlichem Frieden glitt der Blick an den einfachen Farbenstreifen dieser stillen großen Landschaft hin. Ein Streifen Sandgelb; ein Strei­fen Weiß, wo die Brandung, aus dieser Ferne doch auch nur eine regungslose Farbe, aufschlug; ein Streifen schwarzblaues Meer und ein weiter, weiter Streifen rauchig grauer Himmel. Kein Laut kam von der See. Nur auf der Düne ging der Wind ganz leise, wie mit einem feinsten silber­nen Klingen, durch den dürren Strandhafer. Mein Freund wühlte im Sande und zwischen gebleichten kalkigen Muschel­trümmern erschien ein goldglänzendes Körnchen Bernstein. Im Golde lag ein dunkles Pünktchen, vielleicht der eingeschlos­sene Leib eines Spinnchens.

Wir sprachen von der weltgeschichtlichen Mission dieser Körnchen. Auf der Suche nach ihnen ist von der Mittelmeer­kultur, der absoluten Weltkultur von damals, Deutschland zuerst entdeckt worden, wie später Kolumbus Amerika entdeckt hat auf der Suche nach wirklichem Gold. Heute liegt die Zenitsonne der Menschheitskultur hier oben auf dem Norden. In dieser Stille des Seebildes dachten wir an die nahe Großstadt, wo diese Kultur rauschte. Dort sang der Wind in Telegraphendrähten, und es antwortete ihm der klagende Laut elektrischer Wagen, die an ihrer Leitung dahinglitten. Äm Bern­stein, der Papierschnitzelchen anzog, ist die Elektrizität entdeckt worden, die noch von ihm (dem alten Elektron) den Namen hat. Und das alles," sagte mein Freund,durch ein paar Tröpfchen urweltlichen Harzes, die aus einem faulen Baum tropften und Spinnen und andere widerwärtige Tiere ein-

*) Vergl. Nr. 14, 16, 18 und 22 dieses Jahrganges derGartenlaube".

kleisterten. Die Weltgeschichte läuft doch recht merkwürdig." Das kommt auf die Auffassung an, mein Lieber. Du hast nie mit dem richtigen Auge geschaut, das in der Welt­geschichte zugleich eine Wirklichkeit und ein Märchen sieht. Es ist aber beides in ihr, in dieser riesengroßen, unendlich tiefen Welt je nachdem du dich stellst. Weißt du, was dein Harz mit deiner verklebten Spinne ist? Gold aus dem Paradiese!"

. . . Die großen Taten der Vorbereitung sind getan. Himmel und Erde stehen, Wasser ist gesondert von Land. Der höchste Moment, den eine vom Menschenstandpunkt aus erzählende Schöpfungslegende erwarten kann, naht: der Mensch soll kommen. Da pflanzt der Weltgeist einen wunderbaren Garten. Blaue Ströme fließen aus ihm herab und Gold kommt mit ihnen, Gold vom Paradiese. In diesem Gold­lande unter singenden Blütenbäumen wird der Mensch eines Tages erwachen, das große Jubelgeschenk der Schöpfung. So sehen die Dinge aus, mit dem Auge des Märchens geschaut.

Der Naturforscher aber malt dir in diese gleiche Welt ein Landschaftsbild aus der ersten Hälfte der Tertiärzeit. In dieser Epoche der Naturentwicklung werden große Teile Europas bedeckt von einem Tropenwalde von wirklich märchenhafter Schönheit. Dieses Europa ist damals ein Erdteil für sich, von Asien zeitweise ganz getrennt, mit seiner Hauptlandmasse von Norden, von den damals noch warmen Polarländern, herabsteigend ähnlich wie heute Nordamerika mit Grönland, südlich in große Jnselarchipele wie die heutigen Sundainseln zerstückelt, westlich wahrscheinlich durch einen Isthmus mit Nordamerika verknüpft; die Alpen fehlen noch. In den Urwäldern dieses uns im Umriß also ganz fremdartigen,