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Janfredrik drückte die Klinke der Haustür. Da wurde sie von innen geöffnet. Ein junger Mann trat heraus, an seinem Arm, in lichtem Gewand, Blumen an der Brust, in den Augen übermütiges Glück — sie!
„Sophee!"
Sophie Klünders schrak zurück, als sie plötzlich vor dem Bauern stand, der zwischen den Großstadtmenschen noch kantiger, plumpschwerer wirkte als in seiner Heimat — aus seinen hohlen Augen seine Leidenschaft sie anleuchtete.
Mit äußerster Anstrengung faßte sie sich. Freundlich sprach sie, ein bißchen fremd, ein bißchen herablassend. „Sieh da, Herr Holm. Sind Sie auch einmal in Hamburg? Das ist ja schön. Gehen Sie nur zu Mama hinauf. Die wird sich freuen. Ich Hab' jetzt keine Zeit, wissen Sie. Mein Tyrann", sie wies auf den Herrn an ihrer Seite, „will mit mir ausfahren."
Ihre Dreistigkeit wirkte. Janfredrik fand kein Wort, nicht einmal einen Laut, während sie eidechsengleich an ihm vorbeischlüpfte in den Wagen. Das rasende Blut preßte ihm die Kehle zusammen wie ein Knebel.
Während die beiden einstiegen, hörte er die Stimme des Mannes: „Was war denn das für ein Kerl?"
Ein leises Auflachen, ein Achselzucken antworteten.
Schon zöge:: die Pferde an. Da gewann Janfredrik wieder Gewalt über seine Glieder. Mit einem Aufbrüllen stürzte er ihr nach mitten in das Gewühl der Omnibusse, Lastfuhrwerke und Droschken. Hart vor einem Straßenbahnwagen riß ein Mann ihn am Arm zurück. „Gottsdonner! Menschenskind, sehen Sie sich vor!"
Der Wagen mit dem Paar war weit.
Da entschloß sich Janfredrik hineinzugehen ins Haus. Ganz mußte er's wissen. Er wollte die Mutter fragen.
Er klingelte, er schob die öffnende Stubenmagd beiseite, drängte sich in die Tür. „Frau Trina! Frau Trina Klünders!"
Da stand er schon in der Küche.
Mit einem Schrei drehte Trina Klünders sich nach ihm um.
„Jtzsus, Sie sind's, Herr Holm. Ich Hab' Sie wahrhaftig für 'nen Strolch gehalten. Nehmen Sie's nicht für ungut. Aber Sie sehen zum Fürchten aus. Setzen Sie sich doch. Wie steht's zu Haus? Ein Schälchen Kaffee gefällig?"
Janfredrik setzte sich nicht.
„Wissen will ich," keuchte er, während er sich taumelnd am Türrahmen hielt, „wissen —" Da stockte er wieder.
„'S ist nur," sagte Frau Trina, „daß wir heut leider gar nicht viel Zeit haben, Herr Holm. Was mein Sophee ist, die feiert ja heut Verlobung."
„Also wahr!" schrie Janfredrik, „wahr!"
Ein Krampf schüttelte ihn. Er fiel aus den Küchenstuhl und lachte, lachte, lachte — ein so schauerliches Lachen, daß es Frau Trina eiskalt über den Rücken lief und sie heimlich dem Mädchen einen Wink gab, von der Straße Hilfe zu holen.
Inzwischen versuchte sie Janfredrik zu beruhigen. „Herr Holm! Herr Holm! Nu nehmen Sie sich doch zusammen. Nee, warum machen Sie denn so'n Lärm. Ich muß mich ja vor meinen Nachbarn schämen."
Die Magd kehrte zurück, begleitet von einem Tischler und seinen Gesellen, die sie aus der Werkstatt gerufen hatte.
Janfredrik verstummte. Was er erfahren hatte, war der Zusammenbruch seines ganzen inneren Menschen. Mit zitternden Fingern griff er sich an den Kopf.
„Daß ich auch recht versteh, Frau Klünders. Ich begreif' heut nich ganz gut. Ihr Sophee, die Sophee, die mit Sie bei Vorsteher Ehlers war, die ist die Braut —"
„Von Herrn Architekt Fincke, jawohl, Herr Holm. Sie dürfen das den Schmalenbeekern erzählen. Die werden sich mit uns freuen. Sie sind alle so freundlich gegen mein Sophiechen gewesen."
Janfredrik stand mühsam auf.
„Un — un können Sie schwör'n, Frau Klünders — schwör'n, daß das mit der Dern ihren freien Willen geschieht, daß Sie Ihr Sophee nich gezwungen haben?"
„Aber Herr Holm! Einfach selig sind die jungen Leute. Seit zehn Monaten waren sie ja insgeheim miteinander einig."
„Seit zehn Monaten!" Janfredrik schoß das Blut wieder zu Kopf. „Wenn dat is, denn so is Ehr Sophee — is —"
„Was, Herr Holm? Erlauben Sie. Da möcht' ich doch bitten!"
„Nee!" sagte Janfredrik. „Ich Hab' das immer unanständig von Adam gefunden, daß er sich hinter die Eva verstecken wollt' mit seiner Sünde. Ein wie ich muß wissen, was er tut. Un wat ik dohn hebb, dat hebb ik dohn, ik alleen." Schwerfällig wendete er sich nur.
Durch -die an der Tür stehenden Männer machte er sich Bahn. Und keiner von ihnen wagte ihn festzuhalten. Es stand ein Schicksal auf der eigensinnigen Stirn, in den harten, dunkelblauen Augen, das ohne Worte sprach und Ehrfurcht einflößte.
Mit steifen Schritten ging er zum Bahnhof, mit nachtwandlerischer Sicherheit das Gewühl auf Hamburgs Straßen durchschneidend. Er sah nichts von dem, was vor ihm war, nicht die hastenden Menschen, nicht die Fuhrwerke, die hohen Häuser, den leuchtenden Sonnenschein. Er sah in sich. Da stand das falsche Gesicht im Kranz flatternder, goldener Haare und das andere mit den brechenden Augen. Er sah Jan Meier-Clüvers mit dem grünen Band am Hut, Hinrich Lat- wesen mit seinem Strauß. Über sie alle war das Weib weggeschritten mit leichtem Schritt, lachte ihrer im Arm des einen, den es begehrte, das Weib, von dem das Böse kam von Anbeginn, wie er's in der Bibel gelesen, gewußt und vergessen hatte in tollmachendem Rausch. Der Rausch war nun vorüber. Der Fremde, der fünfunddreißig Jahre in seiner Seele zusammengerollt gelauert hatte und auf des Weibes Wink hervorgebrochen war zu fremdartigem Verlangen und ungeheurer Freveltat, hatte sich in seinen Winkel zurückgeduckt. Der nüchterne, harte Janfredrik von einst war er wieder. Der sah alles, wie es war, das Leid von Alheid Ehlers, seinen Wortbruch und seine Narrheit. Und ein Narr wie er war sein Bruder Brün gewesen, ein Narr und ein Opfer, kein Treuebrecher an ihm. Nun verachtete er auch Gesetz und Gericht nicht länger. „Schelme und Lumpen wie wir Menschens haben dem ja woll nötig." Jetzt galt es eilig, das einzige zu tun, was ihm blieb. Es gab da keine Wahl.
Er fuhr nicht heim nach Schmalenbeek. In Bremen blieb er, stieg die Treppe zu dem Polizeibureau hinauf, in dem er gestern dem fragenden Beamten irreführendes Zeugnis abgelegt hatte. „Herr Kommissär, ich komm' — es is wegen -—"
„Ah, Herr Holm. Ist Ihnen noch eine Wahrnehmung eingefallen, die Licht verbreiten kann über das Ende Ihres Kameraden, des Brün Lorensen aus Schmalenbeek?"
Janfredrik richtete sich zusammen wie einst bei den Soldaten.
„Ich Hab' ihn vermoordt." — —
Das war eine Aufregung in dem stillen Schmalenbeek, als die Tat bekannt wurde. Von nichts anderm wurde in den Spinnstuben gesprochen. Auf den herbstlichen Feldern rotteten sich die Leute in Klumpen zusammen, Bauern und Knechte durcheinander. Dem Wortkargsten war die Zunge gelöst. Aber mehr Bedauern als Abscheu klangen in den Reden wieder. Die jungen Haussöhne deuteten an, sie wüßten Bescheid, und es seien nicht immer die Schuldigsten, die hinter Schloß und Riegel zu sitzen kämen.
Ehlers' hielten sich in ihrem Haus. Sie schämten sich, eine bittere Empfindung für harte, stolze Leute.
„Dat mi vun de Bagasch keen mihr in mien ehrlik Huus kümmt", sagte der Vorsteher zu seiner Mutter. „Du kannst dat an Trina schrewen."
Neben der tiefgebeugten alten Frau saß Alheid, die gerungenen Hände im Schoß, die Augen rot von Tränen. Ihre Angehörigen behandelten sie mit ehrfürchtiger Achtung als eine Art Prophetin, weil sie allein sich nicht hatte blenden lassen von der Schönheit und dem geschmeidigen Wesen Sophees.
Zur Gerichtsverhandlung zog ganz Schmalenbeek nach Bremen, die Hälfte als Zeugen, die Hälfte als Zuschauer.