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Pferdestand. Guckte der wieder herüber, sah ihm zu? Nein, er würd's nicht tun. Das nicht. Das war zu hart.
Er legte sich ins Bett, steckte den Kopf in die Federn, wollte sich zwingen Zu schlafen. Aber in seinem Hirn bohrte der neue Gedanke wie ein eingetriebener Nagel. Er konnte ihn nicht herausbekommen.
Der Junge, das Mädchen waren Brüns Blut. Wenn Janfredrik einsam hauste, wenn nach seinem eigenen Richterspruch ihm nie eigene Kinder erwachsen durften — hatte nicht Brüns Blut ein Recht auf das Haus, das Brün mit erbaut, auf das Land, das er mit urbar gemacht hatte?
Es waren die Kinder eines Lumpen, junge Diebe und Lügner.
Es waren Kinder. Zum Lumpentum der Swensen, zur Rechtschaffenheit der Lorensen lagen die Keime wohl noch gleich lebenskräftig in ihnen. Auf die Erziehung kam's an, welcher von beiden groß wachsen würde.
Aber da war die Mutter, das gemeine, böse, ganz verlorene Weib, das in der Verbitterung seines Neides und Hasses jedes Haus zur Hölle machen mußte.,
Die unerbittliche Stimme in seinem Inneren antwortete: Hast du es denn verdient, einen Himmel in deinem Haus zu haben, Janfredrik Holm?
„Nein, nein, nein", sagte Janfredrik laut in die Nacht. „Ich tu's nicht."
Als er am nächsten Morgen die Haustür öffnete, saßen zwei hungrige Krähen im Schnee, wühlten auf seiner Schwelle nach Abfall. Sogleich fielen ihm die kleinen Swensens ein. Ob die auch so sich die Brocken zum Leben suchten vor fremder Tür? Bitter kalt umwehte ihn der Wind. Seine Diele hatte Raum für viele um die rauchende Torfglut — und Brüns Blut fror. Brün hatte das wärmende Dach über ihm aufrichten helfen — und Brüns Blut hatte kein Dach über sich. Er aber war Brüns Erbe, der Erbe von Brüns
Gut. Der Erbe von Brüns Pflichten wollte er nicht werden. Wirklich, sein Bruder Brün hatte Ursache, mit ihm
unzufrieden zu sein.
Er hing seinen Mantel um, drückte die Pelzmütze tief ins Gesicht und ging durch das Schneegeriesel zu Ehlers.
„Vorsteher, willst du mir woll dein Slitten auf ein Tager drei borgen? Ich muß nach Bremen."
„Jo, wat wuttst denn up eenmol in Bremen?" fragte Ehlers verwundert.
„Ich Hab' da zu tun."
„Denn krieg' di de Slitten man rut. Wi brukt de nich vor Sünndag."
„Bis Sonntag bin ich zurück."
Janfredrik fuhr nach Ottersberg, stellte Pferd und Schlitten ein und stieg in den Zug nach Bremen.
Es war Nacht, als er bei Petersen anlangte. Der hatte jetzt stille Zeit. Die Torfschiffer kamen nicht mehr. Er konnte ihm bequem Schlafgelegenheit geben. Janfredrik wählte die billigste und auch die nur nach zähem Feilschen um den Preis. Wehmütig sah er auf den Beutel in seinem Gürtel. Solche Reise kostete ein Sündengeld. Und dies war erst der Anfang.
Er fragte, ob Peter Petersen von Brüns Verwandten, den Swensens, wisse.
Der Wirt hatte nur gehört, daß ein Swensen vor ein paar Jahren ertrunken sei. Er holte aber das Adreßbuch. Danach wohnte eine Frau Swensen Schulstraße Nummer vier im dritten Stock.
In die Schulstraße ging Holm früh am anderen Morgen zu Fuß. Um den Groschen für den Omnibus wär's ihm leid gewesen.
Im dritten Stock kannte niemand eine Frau Swensen. Die neuen Mieter schlugen ihm die Tür vor der Nase zu.
Er suchte den Wirt auf. Der fing gleich an zu schreien:
„Swensens? Was, Swensens?" — Er hatte das Diebsgesindel aus dem Haus geworfen. Die Miete wären sie ihm noch schuldig. Ob er dazu gehöre? Dann solle er nur bezahlen. Wo sie geblieben wären, wisse er nicht.
Janfredrik ging also zur Polizei, bat um Auskunft. Er sei der Freund des verstorbenen Bruders der Frau und er wolle sich der Familie annehmen.
Da holte der Beamte die Akten. „Frau Margret Swensen, geborene Lorensen." ^
Es waren die Akten einer mühseligen Sünderin. Ewiger Wohnungswechsel, Verurteilungen wegen Hausfriedensbruchs, Hehlerei, Bettelei, tätlicher Beleidigungen. Die vorläufig letzte Station dieses Jrrgangs war das Krankenhaus. Dort lag sie zur Zeit.
„Und ihr Kinders?" fragte Janfredrik. „Können'Sie mir sagen, was mit ihr Kinders is?"
Die Polizei wußte auch das. Katharina Swensen war Ostern aus der Schule gekommen, zweimal wegen unerlaubten Feilbietens von Blumen bestraft und stand seit vierzehn Tagen bei einem Gastwirt am Freihafen in Dienst. Der Polizist sagte letzteres mit einem bedeutsamen Achselzucken.
Brün, der Junge, war zu einem Korbflechter ausgetan worden, seit seine Mutter im Krankenhaus lag. Er besuchte die Volksschule, war wegen verschiedener Diebereien schon mit Haft bestraft, und es schwebten Erörterungen, ob man ihn, wie sein Vormund beantragte, in einer Besserungsanstalt unterbringen solle.
„Nee," sagte Janfredrik, „das nich. Ich will die Swensens all mit auf mein Hof in'n Moor nehmen."
„Das würde gewiß für Swensens die beste Lösung sein", gab der Beamte zu. Er riet aber Holm selbst, sich die Sache ernstlich zu überlegen, bevor er einen bindenden Entschluß fasse. Freude würde er an der Familie schwerlich erleben.
„Um mir ein Freude zu machen, hol' ich ihr auch nich", versicherte Janfredrik grimmig.
Da schrieb der Kommissär ihm die Adressen auf, gab ihm eine Legitimation und einen Erlaubnisschein zum Eintritt in das Krankenhaus, denn es war kein Besuchstag.
„Wenn Sie, nachdem Sie die Leute gesehen haben, bei Ihrem Vorsatz bleiben," sagte der Beamte, „dann kommen Sie hierher zurück. Ich will Ihnen helfen, die nötigen Formalitäten zu erledigen. Sie können dann um so rascher nach Haus fahren."
Vor dem Krankensaal, in dem Margret Swensen lag, blieb Janfredrik stehen, wahrend die Schwester hineinging, seinen Besuch zu melden. Ein grimmes Lächeln spielte um seine Lippen. Er erkannte die Stimme von Brüns Schwester. Schrill und hart wie Möwenschrei gellte sie aus dem Gemurmel der anderen fünfzig Kranken hervor.
Dann ging die Tür auf. Zwischen den Vettreihen hin, aus denen neugierige Augen aus hageren oder schmerzverzerrten Gesichtern ihm nachblickten, führte die Wärterin ihn zu einer Gruppe Genesender, die um einen Tisch saßen.
Eine stand. In die Stirn fielen ihr Strähnen ihres liederlich aufgesteckten Haares. Die Nase sprang wie ein Eulenschnabel zwischen den abgefallenen Wangen hervor, und die dunkle Umrandung, die ihre tiefliegenden Augen größer erscheinen ließ, vollendete ihre Ähnlichkeit mit einem zornigen Waldkauz. Ihren langen dürren Arm wie einen Wegweiser gegen den Nahenden ausstreckend, schrie sie: „Das ist er.
Seht ihn euch an! Der hat meinen Bruder umgebracht!"
Die Köpfe in den Betten hoben sich. Unter den Weibern um Margret Swensen entstand eine Bewegung. Aber Janfredrik, der vom Wirbel bis zur Zehe bebte, so oft der zürnende Schatten in der Stille und Einsamkeit seines Hauses ihm diese Beschuldigung zuflüsterte, fühlte zu seiner eigenen Verwunderung, daß er ganz ruhig blieb, als die schrille Weibesstimme sie ihm vor fünfzig Zeugen entgegenkreischte.
„Margret Swensen," sagte er langsam, „ich bin hier, um dir un dein Kinders mit mich auf mein Hof Zu nehmen."
Sie hörte ihn gar nicht an. „Nicht bloß, daß er ihn umgebracht hat", eiferte sie. „Er hat auch mir un mein Kinders unser Erbe weggenommen. Ihm hat mein Bruder alles, was sein war, verschreiben müssen. — Dieb! Du!