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wiederkommen . . . Und doch Georg, so lieb ich sie auch habe — jetzt Hab' ich dich doch als die erste zu Haus umarmen können — und diese erste Stunde, die hat mir ganz allein gehört ..."
Da zog er sie wieder an sich, und was er ihr nicht sagen konnte in seiner tiefen Rührung über ihre Worte, das fühlte sie, das las sie ihm aus seinen Augen.
Aber, als fürchtete sie doch, er könnte ihre Worte anders deuten, sagte sie dann:
„Sie ist ja doch so gut zu mir — 'sie steht mir doch so lieb in allem bei — vielleicht war das recht selbstsüchtig, was ich da gesagt Hab', Georg — aber mir ist's, eine Mutter..." Sie wiegte leise den Kopf und sah ihn an voll flehender Zärtlichkeit.
Und er lächelte und nickte nur in seiner Ergriffenheit.
Wie jetzt sein Blick voll Liebe auf ihr ruhte, strich sie sich über ihre Schläfen und über das dünn gewordene graue Haar.
„Alt bin ich geworden, mein Bub! Runzeln Hab' ich bekommen, und grau bin ich geworden ..."
Er schüttelte den Kopf und sah es doch, daß sie die Wahrheit sprach.
„Mußt mich auch so lieb haben, Georg— 's ist manches graue Haar dabei, das mir in Sehnsucht nach dir gewachsen ist . . . fünf lange Jahre! ..."
Dann ging ihr Blick von Georg durch das Zimmer, in dem sie nun fast zweiundzwanzig Jahre wohnte, und wiederum zurück.
„Kannst du dich denn auf alles noch besinnen? Hier hat dein Bett gestanden, und — schau her! — hier hängt das Bild, das du mir vor zwei Jahren zu Weihnachten geschickt hast — weißt du noch? . . . Wie du seitdem so männlich geworden bist ..."
Und Georg legte den Arm um die Schultern der Mutter und schritt mit ihr durch den lieben Raum.
Da grüßte ihn Stück um Stück mit den Erinnerungsbildern seiner Jugend.
Wie wohl ihm war, wie alles das vertraut und heimelig zu ihm von den vergangenen Zeiten redete. Nur kleiner schien ihm jetzt das Zimmer und enger, als er es im Gedächtnis trug. Der Tisch, an dem er seine Schularbeiten schrieb, war der nicht größer gewesen? Das Sofa -— war das damals nicht noch breiter? Mit einem stillen, frohen Lächeln schritt er neben der Mutter hin, durch dieses Zimmer, durch das wie einst ein matter Duft zog wie von getrocknetem Lavendel. Aber bei all dem Schauen war doch in seinem Fühlen mit regem Lauschen ohne Unterlaß die sehnende Erwartung wach: Sephi!
Da hingen an den Wänden, gerahmt in diese schmalen goldenen Leisten, die alten Stahlstiche, die er als Kind so oft — so oft betrachtet hatte: „Maria Stuart auf dem Schafott", „Heinrich der Achte, der Katharina Howard verstößt" und „Der Tod des Sängers Rizzio". Da standen all die alten Möbelstücke, der harte Polsterstuhl, auf dem Herr Franz Schneeberger des Abends seine Pfeife rauchte, der blank polierte Schrank — und dort am Fenster, erhöht auf seinem kleinen Unterbau, der Mutter Arbeitssessel.
Zusammen stiegen sie auf diese Stufe und blickten nieder in den Hof, aus dem nun die Kastanienbüume grüßten. Wie Wahrzeichen der hingegangenen Jahre, wie alte Freunde seiner Jugend erschienen auch sie dem Georg . . . Und wie er in das Grün der breiten Kronen niedersah, da wußte er: auch an das Leben dieser Bäume hatte in den Jahren, da er fern gewesen, die Zeit gerührt . . . Dürr war da mancher Ast geworden, und müde von der Last der Zweige neigte manch anderer sich der Erde zu . . .
Doch Frau Marie Bang, die nur das Träumen in dem Blick des Sohnes sah, nickte ihm zu.
„Meine Bäume ..." sagte sie nur.
Und ihm ward seltsam weh zumut bei diesem Wort. . .
Fester griff seine Hand um seiner Mutter schmal gewordene Schultern . . .
Dann klang vom Flur das Aufklinken der Tür herein, und gleich darauf stand Sephi in der Stube.
Mit jäher Hast hatte sich Georg umgewendet.
Das Blut trieb ihm in wilden Stößen nach dem Herzen. Da stand sie bleich und schlank — die zierliche Gestalt, — so anders, als er sie in der Erinnerung trug — so völlig anders, wie ein neues Wesen — und doch dieselbe. Wie im Erschrecken und in jäher Angst und Freude hatte sie ihre Hände gehoben.
Und da war er auch schon bei ihr und hielt sie fest in seinen Armen. — —
Tage kamen, die sich mit unvergänglichem Gepräge in Georgs Fühlen bannten. Ihm war es, als erschlössen alle seine Sinne sich weit in dieser Zeit, als tränken sie mit jedem Nerv in sich, was ihnen da entgegenfloß. Er wußte ja, daß es nur kurze Tage waren und daß ihn die Erinnerung an sie wieder durch lange Jahre fern den Seinen führen sollte.
Und was nicht alles drängte sich in diese enge Spanne Zeit! Greifbar standen die Bilder ihm in seiner Seele.
Da war das Wiedersehen mit Herrn Franz Schneeberger, der gar kein Freund von Überraschungen, welcher Art immer, war und Georg, als er in den kleinen Buchladen trat, erst fragte, womit er wohl dienen könne.
Und als der alte Herr, der um die Mittagsstunde allein in dem Geschäft war, dann, schärfer durch die Brille lugend, Georg erkannte, da polterte er los, in Ärger und Verlegenheit über die eigene Zerstreutheit und in versteckter heimlich lachender Freude.
„A was, das sein' ja Dummheiten! Ein' alten Mann so überfallen! Js' das a G'hört-sich! Da schreibt ma' doch erst — und überhaupt wer hat denn g'sagt, daß d' kommen sollst? Hast' etwa keine Stell' und möchst' bei mir da unterschlupfen? Nein — das wär' g'fehlt — i' kann mein' Kram no' guat allein machen mit mei'm G'hilfen!"
Erst als er Georgs Lächeln sah und sich hatte beruhigen lassen, wurde er nachsichtiger.
„No ja, dö jungen Leut — so sein 's! Kaum hat er sich a bißel a Gerschtl z'ammg'spart, muaß er zchausfahr'n! Und d' Mutter — na ja — i' kenn's' ja, mei gute Frau Bang — i' kann mir's ja denken, was dös jetzt für a Getua is' mit dir! Dös Abg'schleck' und Abg'druck' um- anand . . .!" Ganz gallig wurde Herr Schneeberger mit einem Male wieder. Dann aber schlug der jähe Ärger um in eine rauhe Freundlichkeit. Er klopfte Georg auf die Schulter, sagte seinen Besuch für den Abend zu und zeigte ihm zürn Schluffe das und jenes im Geschäft.
Und wie sie beide in der kleinen Stube hinter dem Laden standen, wo der Herr Franz Schneeberger sein bescheidenes Antiquariatslager — Spezialität Viennensia! — so dicht gelagert und gestapelt hatte, daß kaum der Raum für die zwei Menschen blieb, da druckste der alte Herr beim Kramen in all' seinen verstaubten Schätzen so seltsam brummend herum, daß Georg wohl fühlte, daß Herr Schneeberger noch etwas Besonderes aus seinem Herzen hatte. Und dann, wie der das hochgeschätzte Werk, die Perle seiner Sammlung, des römisch kaiserlichen Kammermalers I. Houfnagel um 1609 entworfenen Plan von „Wienn in Österreich" in Händen hielt, den Nicolaus Piscator (Bischer) Amstelodamensis um 1640 herausgegeben hat, da strich er mit den grau bestaubten Händen liebkosend über das sorgsam gefaltete, in einer Mappe wohlgeschützte Werk.
„No ja, weils d' mi' scho' fragst," meinte er dabei, „was i'dir damals g'sagt Hab', gilt." Und da Georg fragend zu ihm aufsah und ihn nicht gleich verstand: „No, wirst scho' wissen, stell di' net so dumm. Das weg'n dem Geschäft — was i' versprich, das gilt. Jetzt aber schau!" Und gleich, als schlösse er ein Tabernakel auf, so löste er die Bänder an der Mappe in seinen Händen. —
Da war der Gang mit Sephi durch die Stadt, durch all dieselben Straßen, durch die sie einst geschritten waren, am Tage, ehe er zum ersten Male von seiner Heimat Abschied nahm.