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Und wieder, wie da öden in der stillen Wohnung, wo Stück um Stück des einfachen Geräts ihm Jugendgrüße wachgerufen hatte, so war es bei dem Schreiten durch die Straßen. Ihm war so wunschlos glücklich an der Seite der Sephi. All seine heiße Sehnsucht ruhte aus und stillte sich im Blick auf diese zarte, leicht und zierlich schreitende Gestalt, auf diese Lippen und das blonde spröde Haar und auf die edle Linie dieses Köpfchens. Und diese stille Tiefe ihres Wesens! Er wußte,, wie ihr Fühlen mit ihm ging und wie ein jedes Wort aus ihrem Herzen kam. Nur immer sprechen hätte er sie hören mögen, die weiche, liebe Stimme neben ihm. —
Da waren diese Abende zu Hause bei der Mutter — eng und so wohl und warm wie einst. Wie in ihn: selbst, so träumte nun für Stunden auch in der Mutter das Glück des Rastens aller heißen Wünsche. Und da war auch die Fahrt zusammen mit Sephi hinaus nach jenen stillen Hügeln, darunter neben Georgs Jugendfreund, dem kleinen Hans, das Sterbliche von Heinrick Gerold ruhte.
In Schweigen schritten sie über die breiten Wege, die hell und überhuscht vom Spiel der Sonnenkringel, zwischen den Grüberreihen lagen. Ganz still war es. Nur der Sand erknisterte, und Vögel sangen im Gezweig der Trauerweiden und der ragenden Zypressen.
Gleich einem Garten lag die Totenstadt, und überall waren Duft und Licht und Blühen.
„Wie schön's hier ist."
Ihr Blick traf in den seinen.
Und beide, die da schritten, wußten, daß der, den sie hier in der großen Stille suchten, unsichtbar neben ihnen war.
Dann standen sie vor diesen beiden Gräbern, dem großen und dem kleinen, und legten ihre Sommerblumen nieder. Und hielten sich bei ihren Händen und waren beide tief erfüllt von Andacht. Ihr Beten fand nicht Worte und stieg nicht auf über die Wolken und die Sterne. Es blieb als Dank und treues Denken und als verklärte Liebe bei dem, der hier den ewigen Schlummer schlief, und dessen Bild in ihnen weiter lebte.
Als sie dann wieder durch den großen Frieden schritten, zog Sephi leise den Zypressenzweig, den sie vom Grab des Vaters mitgenommen hatte, durck ihre Finger. Ein Streicheln war es, eine linde Zärtlichkeit.
„Daß meine Mutter nicht hier bei den Ihren ruhen kann . . ." sagte sie dann.
„Deine Mutter, Sephi?"
„Ja . . ." Und nach einer Weile, in der wiederum aller Laut nur dieses leise Knirschen unter ihren Füßen und Vogelgesang und träumerisches Blätterrauschen war: „Ja, Georg, meine Mutter. Du meinst, daß sie sich selber losgesagt hat von dem Guten da unten und von uns ..." Sie bewegte leise den Kopf. „Ich habe früher hart über sie gedacht, und es war eine Zeit, da Hab' ich die Gedanken an sie wie etwas Fremdes, Feindliches empfunden ..."
„Und jetzt?"
„Georg, sie muß furchtbar schwer gelitten haben für das, was sie verbrochen hat. Mein Vater war so gut und — schau! — du weißt ja selbst, wie sehr er sie geliebt hat . . . Und g'rade wenn ich so an seinem Grabe stehe, da ist es, mir, als säh' ich sein Gesicht ... das Hab' ich niemals bös' gesehen. Immer war's gütig, nur in der letzten Zeit, da war's auch immer mit diesem stillen wehen Lächeln, das wie Verstehen war und wie Verzeihen ... Sie ist irr gegangen ..."
Leise nahm Georg ihre Hand, die immer noch über dem grünen Zweiglein zitterte. Er küßte die Finger. „Du bist wie er . . ." sagte er nur.
Sie aber lächelte ihn an unter den Tränen, die ihr in die Augen traten, und sagte:
„Georg — ich weiß, er hat es ihr verziehen — der Armen . . ." —
Und so ging Tag um Tag, und jeder brachte Georg neue Kraft für jene Zeit, die er noch in der Fremde bleiben
mußte. Als er dann aber schied, da wußte er, daß stärker noch als je vorher in seinem Leben nun das Ziel errichtet stand.
Kein Wort von Liebe hatte er zu Sephi ausgesprochen — aber es war in ihnen beiden das Wissen, daß sie fest einander zugehörten und daß sie nach den: Tage strebten, der sie für immer zueinander führen mußte.
Hoffnung und Zuversicht waren in ihm, und was an seinen: Sehnen zu weich gewesen war, das war erstarkt in dieser
Zeit . . .
Wiederum gingen Georgs Wanderjahre weiter.
Aus Stuttgart kamen nunmehr seine Briefe, die, reger noch als vorher, jedweden Vorgang seines Lebens mit Sephi und der Mutter besprachen. Als lebten sie mit ihm das Leben seines kleinen Kreises, so ausführlich wußten die beiden stillen Frauen, was er trieb.
Und oft geschah es da, daß Frau Marie Bang, der nun die Allgen gar nicht mehr so recht gehorchen wollten bei
diesen: feinen Sticheln aus den: weißen Leinen, aufsah und ruhend aus Sephi blickte. „Jetzt wird er wohl g'rad aus dem G'schäft kommen und in das Gasthaus gehen am Tübingertorplatz — wie heißt's doch? ,Lindenhof'! — wo er immer zu Mittag ißt. Weißt's, wo er immer auch den kleinen
Apotheker trifft ..."
„Den Tapferle?" Sephi lächelte. Auch ihre Hände
ruhten.
„Ja, den Herrn Tapferle, der immer sagt: ,Herr Bang
— wenn's jetzt net ung'schickt wür' — da wollet m'r halt no a Schöpple trinke!' ..."
In diese Zeit war auch die Berufung Georgs zum Militärdienst gefallen.
Zaghaft und gedrückt sah Frau Bang den: Erfolg ent gegen, den ihr von Herrn Franz Schneeberger aufgesetztes Gesuch um Freigabe des Sohnes vom Dienst bringen sollte. Und Georg ward frei. Als einziger Sohn der Witwe, der diese nachweislich durch regelmäßige und wesentliche Beiträge in ihrer bescheidenen Lebensführung unterstützte, kam er von: Dienst los.
Georg war glücklich über diesen Ausgang. Wie eine stille Angst hatte es in ihn: gelegen, wenn er daran dachte, daß seine Dienstpflicht ihn aus der errungenen Stellung reißen könnte, daß er dann jahrelang die Flinte tragen sollte und daß er so, von seinen: Ziel fortgerissen, unübersehbar weit zurückgebracht würde.
Auch Herr Schneeberger, der Verfasser des Gesuchs, konnte den Stolz und seine Freude über den Erfolg kann: unter seinen: spöttischen Gebrumm verbergen.
„No also — jetzt haben S' ihn ja frei, Frau Bang — Ihren klein' Buab'n! Jetzt hat er ja sei' Extrawurscht kriegt, der junge Herr! Mir hat's keiner so leicht g'macht dazumal
— aber heutzutag — dö jungen Leut' — g'rad' als ob's lauter Prinzen wär'n . . . Hab' i' net recht? ..."
Und weiter schritt die Zeit in ihrer Bahn. Sie strich mit ihrer Hand leise und lind über die Scheitel der Frau Marie Bang und rührte an dem unfehlbaren Wesen des Herrn Schneeberger. Der wurde stiller und sprach weniger als sonst. Und kam er dann des Abends zu den beiden Frauen, für deren äußeres Leben ein Jahr ums andere in gleicher Weise ging, dann murrte er über die schändlich hohen Treppen und ließ sich brummelnd all die liebe Pflege gern gefallen, die er da oben fand.
Georg aber war von Stuttgart nach München übergesiedelt, und wieder sprachen seine Briefe von seiner Arbeit, seinen: Leben und seiner Sehnsucht.
In einen: der ersten Geschäfte hatte er eine führende Stellung gefunden. Sein Bestes setzte er ein, und was ihn:
sein Beruf an Freude und Gewinn geben konnte, das nahm er mit als Dank dafür. Auch neue Freunde fand er an der Isar, und einen, der ihn: längst ein lieber Freund gewesen, fand er wieder: Joseph Teltscher, der Bildhauer, zog mil Else Bernhardt, seiner jungen Frau, nach München.