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Nichts hören! Nichts sehen! Heim!
Er raffte sein Gewehr vom Boden auf. Er tat ein paar Schritte.
Warum waren die Füße ihm schwer und der Atem gepreßt? Fürchtete er, daß der Schatten des Ertrinkenden, wenn anders jener dort ertrank, anklagend ihn: wieder
kehren würde wie einst Brün? Der kam nicht; der hatte kein Recht. Nicht Janfredrik hatte die Hand aufgehoben gegen ihn. Und er behielt seine Tochter.
Seine Tochter. Er sah plötzlich Trina vor sich, wie sie vertrauend ihn anschaute mit ihrem ehrlichen Kinderblick, damals, als sie freiwillig zu ihm zurückkehrte von ihrer Flucht in die Welt. „Ich glaube doch, daß du es gut mit uns meinst, Onkel Holm." Und er? Das schlimmste Leid gönnte, wünschte er ihr lieber, als daß er sie dem Mann gab, dem er fremde Schuld nicht vergessen konnte.
Ein Grausen packte ihn vor sich selbst. War er denn immer, immer noch der alte, in seinem Jähzorn zügellose Janfredrik, der er gewesen war? Noch? Nach allem, was er gesündigt und gelitten hatte? Mit grauen Haaren noch wie mit blonden? Nein! Nein! Nein! Das Grausige durfte nicht geschehen, dies Leid nicht kommen über Brüns Blut, dem er sich zum Schützer angelobt hatte. Es durfte nicht.
Er rannte dem Wildbruch zu. Die Angst, daß er schon zu spät kommen könnte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Von hundert zu hundert Schritten schrie er: „Hojo! Gerd Klünders! Gerd Klünders! Wo bist?"
Keine Antwort kam zurück.
Und es war doch noch gar nicht lange, daß jener sich von ihm getrennt hatte. Oder doch? Während des heißen Kampfes in seiner Seele hatte er das Maß der Zeit verloren. Er strengte die Augen an, das rasch wachsende Dunkel zu durchdringen. Hart über den weißen Streifen spähte er hin. Der Kopf, ein Arm müßten doch noch aufragen aus dem Flockenmeer. Und warum diese Stille? Ertrinkende pflegen zu schreien. War's gar schon vorüber? Sein Herz setzte aus.
„Gerd Klünders! Halt! Bleib stehen! Da geht kein Weg!"
Mit aller Kraft der Lungen schrie er s. Und diesmal kam Antwort, ganz ruhig, ganz klar.
„Ja, das scheint wirklich so."
Janfredrik hob die Augen, die tief unten, immer die gefährlichsten Stellen entlang gesucht hatten. Nun entdeckte er die Gestalt des Malers fünfzig Schritt abseits, wo eine Art festeren Dammes als schmaler, dunkler Strich in das silberne Geflock der Moorgrasblüten Anschnitt. Schlank und hoch stand Gerd Klünders, kein Versinkender, nicht einmal ein unmittelbar Gefährdeter.
„Bleib stehen!" schrie Janfredrik heftig. „Da kannst nich voran." Und vorsichtig, mit dem Gewehrkolben die Tragfähigkeit des Bodens prüfend, betrat er den Steig, näherte sich. „Das is ein stimmen Fleck Erde, wo du stehst."
„Ich entsinne mich dunkel aus meiner Kindheit, daß hier eine Furt durchging."
„Die findst nich bei Nacht."
„Ja, das Hab' ich auch gefürchtet. Darum bin ich umgekehrt."
Janfredrik sah zu Boden. Unnötige Sorge. Es war keine Gefahr gewesen. Der Himmel hätte seinen frevlen Wunsch nicht erhört. Er hätte nach Haus gehen können. Vielleicht doch nicht. Gerade die Sicheren hascht der tückische Grund.
„Faß' mein Hand an, Gerd Klünders. Komm heraus da."
Zögernd gehorchte Gerd, und es schien Janfredrik, daß er vorsichtig seine Füße setzte wie in geheimem Mißtrauen.
Aber der Boden wurde fester mit jedem Schritt. Schon lagen die weißen Flocken hinter ihnen. Da fragte Gerd: „Sind Sie wirklich aus Sorge um mich zurückgekommen, Herr Holm?"
Janfredrik ließ seine Hand los. „Es is ein slimmes Stück Erde da. Ich warn' jeden davor. Als du weggegangen bist, da Hab' ich das vergessen, weil mir was anderes im Kopf herumging. Nachher is es mir dann eingefallen."
„Das war sehr gütig, Herr Holm. Ich danke Ihnen."
„Um deinetwillen Hab' ich's nich getan", sagte Holm kurz.
Gerd sah ihn prüfend an. Er fragte nichts weiter. Die Tat Janfredriks war ein gutes Zeichen für seine Hoffnungen. Aber voreilige Worte sind oft wie die kühlen Frühlingswinde. Sie machen die Knospen erfrieren, an denen sie rütteln. Er wartete.
Schon tauchten die Kornäcker der Kolonie vor ihnen auf, ein fahlwogendes Meer im Gegensatz zu dem schwarzen Heidekraut, das den Moorboden bedeckte. Da begann Janfredrik: „Ich weiß nich, ob du dich das gut überlegt hast. Trina Swensen is man ein Bauerndern. Du bist ein aus der Stadt. Dein Verwandtschaft und dein Freundschaft werden sich in Trina ihr Art nich finden können und sie nich in die von dein Freundschaft. So was is nich gut."
„Was Sie da sagen, würde richtig sein," antwortete Gerd ehrlich, „wenn ich ein Kaufmann wäre, ein Offizier oder ein Beamter, ein Festangesessener, in eine bestimmte Kaste Eingereihter. Aber wir Künstler sind in allen Ständen daheim. Unsere Freundschaft wählen wir uns nach unserm persönlichen Bedürfnis. Darum können Sie gewiß sein, daß der Kreis, in den ich Trina führe, gerade wie ich selbst in ihr das Meisterwerk bewundern und lieben wird, das sie ist."
Wieder gingen beide eine Strecke schweigend. Dann blieb Janfredrik stehen. „Kannst du mir versprechen, daß du ihr sehr, sehr glücklich machen willst?"
„Das ist mein ehrlicher Wille, Janfredrik Holm."
Der Mond war über den Moorrand heraufgekommen. Bei seinem matten Schimmer sahen die beiden Männer einander lange und fest in die Augen.
Dann kehrte sich Janfredrik mit einer schroffen Bewegung ab.
„Komm morgen früh in mein Haus. Dann wollen wir da über sprechen. Längs die Felder geht dein Weg. Gute Nacht."
„Gute Nacht, Janfredrik Holm."
Als Janfredrik in sein Haus trat, kauerte Trina an der verglimmenden Herdasche. Brün, die Knechte und Mägde waren zur Ruh. Beim Klang der Tür fuhr sie auf, stürzte ihn: entgegen. „Gerd? Gerd? Hast du ihm ein Leid getan?"
„Nein", sagte er kurz.
„O, du hast ihn nicht gefunden?! Gott sei Dank! Gott sei Dank!" Die Tränen begannen ihr aus den Augen zu fließen, Tränen des Glücks, der Dankbarkeit.
Janfredrik stellte seine Büchse in die Ecke.
„Ich Hab' ihm woll gefunden. Dadrum brauchst nich aufzuschreien. Bin ich denn ein unvernünftigen Menschen? Ich hatt' mir vorhin eingebildet, er meint es nich ganz ehrlich mit dich. Das hat mich was wild gemacht. Aber kann sein, daß ich ihm damit unrecht getan Hab'."
„O, Onkel Holm, du hast mit ihm gesprochen? Du hast ihn angehört, lieber, lieber Onkel Holm? Was für ein dummes Ding war ich mit meiner Furcht! Als ob du nicht immer der Klügste, der Beste wärst! Lieber, lieber Onkel Holm."
„Ich will dich sagen," sprach Janfredrik langsam, „er kommt morgen. Un wenn du wirklich nich ohne ihm leben magst, denn so will ich — ich will dein Glück nich in Wege sein, verstehst?"
Mit einem Jubelruf warf sie sich an seine Brust, schlang die Arme um seinen Hals.
„Onkel Holm," schluchzte sie, das Gesicht an seine Schulter gelehnt, „wenn ich dir's sagen könnt', einmal sagen, wie ich dich verehr', wie ich dich lieb Hab'. Nicht Vater, nicht Mutter- Hab' ich gehabt. Du bist mir beides gewesen und Heimat und Lehrer. Nie kann ich's gut machen, was du an mir getan hast. Und wenn ich Gerd lieb Hab', weil ich nicht
anders kann, ich weiß doch, nicht einmal Gerd meint es besser mit mir."
Janfredrik hielt sie schweigend in den Armen. In seine Augen trat ein Nebel, in dem ihm die Tenne und das Herd- feuer verschwammen. In diesem Augenblick fühlte er es ganz, was er in diesem jungen Leben besaß, was er im Begriff war hinzugeben. Denn verlieren würde er sie durch diese Heirat,
1906. Nr. 35.
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