Heft 
(1906) 39
Seite
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soll man Silcler betrachten?

Von Äans Rosenhagen.

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^enn man doch niemals vergessen wollte, daß man in einem Kunstwerk nicht einfach eine Sache vor sich hat, sondern den in Formen, Farben oder Linien gefaßten Empfindungsausdruck eines Menschen! Wie man sich bemüht, den Sinn der Worte zu verstehen, die jemand zu uns sprichst so soll man auch dem Kunstwerk die nötige Aufmerksamkeit zuwenden, um zu ergründen, was dessen Ur­heber zu sagen hat. Freilich: es gibt Menschen, die nichts

Zu sagen haben und doch fortwährend sprechen; aber wenn man nicht gleich erfaßt, was uns jemand mitzuteilen hat, so braucht das nicht notwendig etwas Dummes oder Unverständ­liches zu sein. Es braucht einer nur aus einer ganz andern Stimmung heraus mit mir zu reden, als sie mich im Augenblick beherrscht, und ich bin bis zu einem gewissen Grad gleichgültig gegen seine Worte. Wer auf dem Weg ist zu einem Vergnügen, wird die sorgenvollen Klagen eines Freundes nicht mit der von diesem erwarteten Teilnahme aufnehmen; wer trauriger Stimmungen voll ist, schließt sich freiwillig ab von aller lauten Lust. Aber wozu ver­lieh der Himmel dem Men­schen die schöne Gabe des Mitgefühls? Können wir nicht weinen mit den Traurigen, nicht lachen mit den Fröh­lichen? Ist das Glück der Menschen, die wir lieben, nicht auch unser Glück? Sind des Freundes oder der Freun­din Schmerzen nicht auch die unsrigen? Können wir nicht fromm sein mit den Gläubi­gen? Aber dazu ist unbedingt nötig, daß wir uns den Em­pfindungen der andern ein wenig hingeben, daß wir so­zusagen unsere Empfindungen auf das Niveau der ihrigen einzustellen suchen. Und genau so sollte man es gegenüber

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einem Kunstwerk machen, und um so eher, als dieses ein fixierter Stimmungs- oder Empfindungsausdruck ist, der als etwas Gegebenes und Unveränderliches behandelt wer­den muß. Ich kann nicht verlangen, daß der Künstler, der mich ja gar nicht gekannt hat, auf meine Empfindungsweise eingeht; ich muß vielmehr versuchen, in die seine einzudringen. Das ist natürlich um so schwieriger, je eigenartiger der Künstler als Mensch oder je eigentümlicher seine Ausdrucksweise ist. Dazu kommen, wenn es sich um Kunstwerke aus früheren Jahr­hunderten oder Jahrtausenden oder aus fremden Kulturen handelt, noch jene Schwierigkeiten, die sich aus dem Mangel an positiven Kenntnissen von dem Leben jener fernen Menschen und von allerlei uns fremden Beziehungen und Ereignissen ergeben.

Um mich im Leben von der Empfindungsweise eines Menschen zu unterrichten, kann ich bei Leuten, die ihn kennen, Erkundigungen einziehen; aber sicherer ist es schon, ich lege mich aufs Beobachten, und solches Beobachten macht jedem geistig regen Menschen Freude. Mit dem Kunstwerk, zu dessen Verständnis man gelangen möchte, kann man's genau ebenso

Auferweckung des Lazarus. Gemälde von Albert van Ouwater.

halten. Man muß sich nur bemühen, recht sorgsam zu sehen, und immer darauf bedacht sein, sich von seinen Entdeckungen, die man unter Umständen den vor der Natur selbst gemachten gegenüberstellen darf, Rechenschaft zu geben. Jedes gute Kunstwerk erklärt sich für den, der zu sehen weiß, ganz von selbst. Auf besondere Kenntnisse kommt es für den Kunst­genuß zunächst nicht an. Ob ich weiß, daß die Griechen in dieser herrlichen weiblichen Figur die Göttin Aphrodite ver­ehrten, oder ob ich es nicht weiß, hat auf meine Empfindung von der Schönheit dieser Gestalt nicht den geringsten Einfluß. Solches Wissen kann freilich mein Interesse vermehren, meine Phantasie anregen; aber ich bedarf seiner nicht, nur ästhetische

Freude an der Schöpfung des griechischen Bildners zu haben. Natürlich hat das Wissen auch seine Vorteile. Wenn ich von vornherein die Idee kenne, die ein Maler in einer allegorischen Darstellung hat zum Ausdruck bringen wollen, so kann ich vielleicht schneller als mein Nachbar, der sie nicht kennt, beurteilen, ob der Künstler die selbstgestellte Aufgabe gut oder schlecht gelöst hat; aber mein Nachbar vermag, vor­ausgesetzt, daß er Sinn für das Künstlerische besitzt, genau so schnell wie ich zu sagen, ob wir vor einer hervorragen­den malerischen Leistung stehen oder nicht. Dieser Nachbar hat also Kunstverständnis; während ein zweiter, der mir mit strö­mender Rede den gedanklichen Inhalt jenes Bildes bis ins letzte hinein erklären kann und entzückt ist von dein Ideen­reichtum des Malers, aber keine Notiz davon nimmt, ob ein Meister oder ein Stümper den Pinsel geführt, bei aller Intelli­genz von Kunst sicherlich keine Ahnung hat. Mit einem Wort: das Kunstverständnis beruht nicht auf der Fähigkeit, den Gedankeninhalt einer künstlerischen Schöpfung voll auszuschöpfen, sondern auf einem mehr oder minder aus- gebildeten Sinn für Formen, Farben, Verhältnisse und richtigen Ausdruck. Selbstverständlich ist jene Fähigkeit nicht gering zu schätzen, denn sie steigert den Genuß an Kunstwerken; aber sie kommt für das Kunstverständnis erst in zweiter Reihe in Betracht.

Leider huldigen die meisten Menschen der Gewohnheit, Kunstwerke immer nur auf ihr Inhaltliches, auf die sogenannte Idee hin anzusehen. Sie genießen dabei alles mögliche; sie lassen sich durch den Inhalt eines Bildes rühren, erheben oder- gar aufregen; aber sie genießen viel weniger mit dem Organ, für das der Maler sein Werk schuf, mit dem Auge, als mit dem Verstand. . Die anschauliche Schilderung eines Schrift stellers löst keine andern Empfindungen bei ihnen aus als ein Bild,bei dem sie sich etwas denken können". Daß solche Menschen eine von dem Gewohnten abweichende Form der künstlerischen Darstellung eher als eine Störung denn als den Vorzug eines Bildes ansehen, ist klar, und aus ihren Kreisen setzen sich hauptsächlich die Gegner des Fortschritts in den Künsten zusammen, jene überzeugten Wortführer für die Erhaltung der