Issue 
(1906) 39
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von Raffael und andern klassischen Künstlern geschaffenen Ideale. Solche Menschen begreifen natürlich nicht, warum ein Maler oft lieber ein häßliches altes Weib uralt, als ein hübsches Mädchen, warum ihnen im Bild Dinge gezeigt werden, die sie in der Wirklichkeit abscheulich finden. Ihre Entrüstung über gewisse realistische Künstler ist nur zu erklär­lich; denn für sie existiert ja jedes Ding nur nach seinem Wert für den Verstand. Davon, daß neben der ihrem Verstand zugänglichen Idee oder dem Gegenstand des Bildes noch eine andere Idee, die künstlerische vorhanden ist, und daß gerade sie den wahren Wert des Bildes bestimmt, wissen sie nichts. Und auch dafür fehlt ihnen das Verständnis, daß diese künstlerische Idee es ist, welche die Abweichung von der ihnen angenehmen Malweise verursacht, ja recht eigentlich fordert. Es gibt künst­lerische Ideen sehr mannigfacher Art, beinahe ebensoviel wie gute Bilder. Eine solche Idee kann in der Linie ebensogut

wiederzugeben und eure den: Auge schmeichelnde Harmonie schöner Farbenflecke herauszubringen, findet an solchem Bild natürlich nichts zu genießen. Wer den Wert von Raffaels bekannterDisputa" nur in dem Ausdruck der Köpfe und den gedanklichen Beziehungen der verschiedenen Figuren zuein­ander sieht, kennt das, was Raffael als Künstler ist, überhaupt nicht. Nicht allein, daß in diesem Bild eine Fülle schöner Bewegungen zu bewundern ist das Fabelhafteste bleibt, wie alle Erscheinungen, Bewegungen und Stellungen zusammen­klingen und einen unglaublich glücklichen Rhythmus in die große Bildfläche bringen, so daß am Ende alle Einzelheiten in einem großartigen Gesamteindruck untergehen.

Die künstlerische Idee kommt also nicht im Inhaltlichen eines Bildes an sich zum Ausdruck, sondern darin, wie das Inhaltliche zur Darstellung gebracht wurde, auf welche Art und mit welchen Mitteln. Mit dem Fortschreiten der Künste

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Die Geburt der heiligen Jungfrau.

Gemälde von Domin ico Ghirlandajo.

liegen wie in der Farbe, in der Verteilung der Hellen und dunkeln Flecken eines Bildes sowohl wie in der Wahl des Ausschnitts. Auch darin, wie Licht oder Bewegung dargestellt wurden, kann die künstlerische Idee sich offenbaren. An der Bedeutung einer solchen für die Wirkung des Kunstwerks ändert natürlich die Tatsache nichts, daß unzähligen Werken diese Idee fehlt, was nicht hindert, daß sie gewissen Leuten gefallen. Aber solche Werke können mit Recht jenen Büchern und Theaterstücken an die Seite gestellt werden, die auch starken Beifall finden und um die sich nach ein paar Jahren niemand mehr kümmert. Nun liegt es aber in der Natur der Sache, oder vielmehr in der Bestimmung des Bildes, sinnlich wahr­genommen zu werden. Daher offenbart sich die künstlerische Idee in einem Bild eben auch nur den dafür empfänglichen und empfänglich gehaltenen Sinnen. Wer in einem Apfel­stilleben nur die Darstellung eines ihm gleichgültigen Gegen­standes erblickt und nicht bemerkt, daß es den Maler verlockt hat, die verschiedenen zarten Abstufungen von Rot und Gelb und Grün mit dem höchsten Reiz des farbigen Ausdrucks

haben diese und jene eine immer größere Verfeinerung erfahren. Während in den frühesten Bildern der Gegenstand immer das Wesentliche ist und das Künstlerische sozusagen instinktiv von den Malern geleistet wird, schalten die späteren Künstler mit dem Gegenstand selbst immer freier. Er wird einfach der Träger ihrer künstlerischen Idee.

Die Künstler, denen gegenüber dein Stoff ihrer Bilder noch das Bewußtsein der Gewalt der Kunst über jenen fehlt, nennt der Kunsthistoriker die Primitiven, die Ursprünglichen oder Uranfänglichen. Zu ihnen gehört, wie man leicht wahr­nehmen wird, der im fünfzehnten Jahrhundert hochgepriesene Albert van Ouwater, vielleicht ein Schüler des großen Jan van Eyck. DieAuferweckung des Lazarus" ist das einzige auf uns gekommene beglaubigte Werk seiner Hand. Es befindet sich im Besitz des Berliner Kaiser-Friedrich-Museums. Man sieht, daß der Maler noch nicht gelernt hat, den Gesichtern der dargestellten Personen einen sehr starken und vielfachen Ausdruck zu geben und daß es ihm mit der Wiedergabe von Bewegungen nicht viel besser geht. Das Erstaunen über das