825
Wunder, das sich vor den Augen dieser Zuschauer vollzogen hat, ist in deren Köpfen viel weniger deutlich geschildert, als die Tatsache, daß der totgewesene Lazarus bereits unangenehm roch. Das hindert natürlich nicht, an dem Bild köstliche Einzelheiten zu l wundern, so die schöne ruhige Gestalt der trauernden Schwester oder die sich langsam belebenden Züge de- Lazarus. Ferner ist die Komposition als künstlerische Idee, wenn man an Bilder von Zeitgenossen des O uw ater denkt, sehr gut überlegt. Die Ordnung der Zuschauer in zwei Gruppen gibt der Darstellung Klarheit. Und endlich hat der Künstler ein sehr feines Mittel gewählt, die reichen Farben der Gewänder zu einer schönen Gesamtwirkung zu bringen, indem er den Vorgang in eine von dem Kirchenraum umschlossene Kapelle verlegte, die kein volles Licht hat.
In Italien sind um etwa die gleiche Zeit die Erfahrungen und technischen Fähigkeiten der Künstler um vieles weiter entwickelt. Sie schalten schon sehr frei mit der Wirklichkeit. Sie kennen keine Schwierigkeiten in der Wiedergabe irgendwelchen Ausdrucks, irgendwelcher Bewegung. Sie wissen aufs feinste zu charakterisieren, Unterschiede der Stellung oder der Geburt auf die unvordringlichste Weise durch Haltung und Ausdruck zu geben. Man sehe daraufhin nur einmal das Teilstück aus einer der schönsten Fresken des Dome- nico Ghirlandajo an, die Wochenstube aus der „Geburt der Maria" in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz! Wie deutlich spricht sich schon die reichere Lebenshaltung des Italiens der Renaissance darin aus, daß der Vorgang in ein vornehmes, von Künstlerhand geschmücktes Haus verlegt wurde. Die heilige Anna befindet sich ersichtlich in wohlhabenden Verhältnissen, denn man sieht auf dem Bild zwei Mägde, eine, die das Kind betreut, und eine zweite, die Wasser für die Reinigung des Kindes herbeibringt. Neben dem Kindermädchen sitzt eine junge Bekannte der Mutter. Sie hat sich neben der Magd niedergelassen, um das Kind in den Arm zu nehmen; hält aber bei diesem Unternehmen unwillkürlich inne, weil jemand kommt, und blickt dem nahenden vornehmen Besuch entgegen.
Man hat also in dem
-
MagnificaL.
Gemälde von Sandro Botticelli.
Johannes und Petrus.
Gemälde von Albrecht Dürer.
Bild die Wochenstube einer edeln Florentinerin vor sich, eine kulturgeschichtlich äußerst interessante Darstellung; aber auch eine reizende künstlerische Idee in der Schilderung schöner edler Bewegungen. Dieses würdevolle Schreiten der Besucherinnen, dann die entzückende Stellung der beiden sitzenden Gestalten zueinander, und als Gegensatz zu ihnen und der majestätisch auf ihrem Bett ruhenden jungen Mutter die schwungvolle, lebhafte Bewegung der mit Badewasser herzueilenden Dienerin. Der Florentiner Meister gibt in jedem Zug dieses Bildes zu erkennen, daß er die vollkommenste Gelegenheit hatte, das Leben und Wesen vornehmer Damen seiner Stadt kennenzulernen, und daß er für die Darstellung der menschlichen Gestalt und ihrer Funktionen keine Schwierigkeiten kennt. Sein Landsmann Sandro Botticelli hat in seinem berühmten „Magnificat"*) die künstlerische Idee oder Aufgabe zur Lösung gebracht, die Madonna mit dem Jesusknaben und fünf Engeln in ein Kreisrund hineinzukomponieren, ohne einen Verstoß gegen die Wahrheit und Möglichkeit der Erscheinungen zu begehen. Er gibt nicht nur eine unvergleichlich schöne Füllung des Bildrunds, die nichts Gewaltsames hat und unendlich klar bleibt, trotzdem hinten noch
eine Landschaft spricht, sondern er bietet auch in diesem Werk eine der wunderlieblichsten Madonnen, die je gemalt wurden, deren Typus ebenso bezeichnend für diesen zarten, melancholischen Künstler ist wie der seiner weiblichen Engel.
Und gegen dieses arm lauter schöngeschwungenen Linien bestehende Bild die herbe Kraft Albrecht Dürers in seinen „Aposteln" aus der Münchener Pinakothek. Hier liegt die künstlerische Idee gleich stark im Ausdruck der Köpfe wie in der Stellung der Figuren und in der Draperie der Mäntel. Dürer hat mit Bewußtsein die einfachste aller Stellungen, die auf zwei Füßen, gewählt. Die Mäntel umhüllen in schweren, wuchtigen, feierlichen Falten — der eine rot, der andere weiß — die Gestalten des So geirannt nach den ersten Worten in dem aufgeschlagenen Buch, die die Madonna geschrieben hat: NaAnitieat aniina msa äo- nünurn.
Paulus und Markus.