Issue 
(1906) 39
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Wunder, das sich vor den Augen dieser Zuschauer vollzogen hat, ist in deren Köpfen viel weniger deutlich geschildert, als die Tatsache, daß der totgewesene Lazarus bereits unangenehm roch. Das hindert natürlich nicht, an dem Bild köstliche Einzelheiten zu l wundern, so die schöne ruhige Gestalt der trauernden Schwester oder die sich langsam belebenden Züge de- Lazarus. Ferner ist die Kompo­sition als künstlerische Idee, wenn man an Bilder von Zeitgenossen des O uw ater denkt, sehr gut überlegt. Die Ordnung der Zu­schauer in zwei Gruppen gibt der Darstellung Klarheit. Und endlich hat der Künstler ein sehr feines Mittel gewählt, die reichen Farben der Gewänder zu einer schönen Gesamtwirkung zu brin­gen, indem er den Vorgang in eine von dem Kirchenraum um­schlossene Kapelle verlegte, die kein volles Licht hat.

In Italien sind um etwa die gleiche Zeit die Erfahrungen und technischen Fähigkeiten der Künstler um vieles weiter entwickelt. Sie schalten schon sehr frei mit der Wirklichkeit. Sie kennen keine Schwierig­keiten in der Wiedergabe irgendwelchen Aus­drucks, irgendwelcher Bewegung. Sie wissen aufs feinste zu charakterisieren, Unterschiede der Stellung oder der Geburt auf die unvordringlichste Weise durch Haltung und Ausdruck zu geben. Man sehe darauf­hin nur einmal das Teil­stück aus einer der schön­sten Fresken des Dome- nico Ghirlandajo an, die Wochenstube aus der Geburt der Maria" in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz! Wie deutlich spricht sich schon die reichere Lebenshaltung des Italiens der Renais­sance darin aus, daß der Vorgang in ein vorneh­mes, von Künstlerhand geschmücktes Haus verlegt wurde. Die heilige Anna befindet sich ersichtlich in wohlhabenden Verhält­nissen, denn man sieht auf dem Bild zwei Mägde, eine, die das Kind be­treut, und eine zweite, die Wasser für die Rei­nigung des Kindes her­beibringt. Neben dem Kindermädchen sitzt eine junge Bekannte der Mut­ter. Sie hat sich neben der Magd niedergelassen, um das Kind in den Arm zu nehmen; hält aber bei diesem Unter­nehmen unwillkürlich inne, weil jemand kommt, und blickt dem nahenden vor­nehmen Besuch entgegen.

Man hat also in dem

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MagnificaL.

Gemälde von Sandro Botticelli.

Johannes und Petrus.

Gemälde von Albrecht Dürer.

Bild die Wochenstube einer edeln Florentinerin vor sich, eine kulturgeschichtlich äußerst interessante Darstellung; aber auch eine reizende künstlerische Idee in der Schilderung schöner edler Bewegungen. Dieses würdevolle Schreiten der Besucherinnen, dann die ent­zückende Stellung der beiden sitzenden Gestalten zueinander, und als Gegen­satz zu ihnen und der majestätisch auf ihrem Bett ruhenden jungen Mutter die schwungvolle, leb­hafte Bewegung der mit Bade­wasser herzueilenden Dienerin. Der Florentiner Meister gibt in jedem Zug dieses Bildes zu erkennen, daß er die voll­kommenste Gelegenheit hatte, das Leben und Wesen vor­nehmer Damen seiner Stadt kennenzulernen, und daß er für die Darstellung der mensch­lichen Gestalt und ihrer Funk­tionen keine Schwierigkeiten kennt. Sein Landsmann Sandro Bot­ticelli hat in seinem berühmten Magnificat"*) die künstlerische Idee oder Aufgabe zur Lösung gebracht, die Ma­donna mit dem Jesusknaben und fünf Engeln in ein Kreisrund hineinzukomponieren, ohne einen Verstoß gegen die Wahrheit und Mög­lichkeit der Erscheinungen zu begehen. Er gibt nicht nur eine unvergleichlich schöne Füllung des Bildrunds, die nichts Ge­waltsames hat und unendlich klar bleibt, trotzdem hinten noch

eine Landschaft spricht, sondern er bietet auch in diesem Werk eine der wunderlieblichsten Ma­donnen, die je gemalt wurden, deren Typus ebenso bezeichnend für diesen zarten, melancholi­schen Künstler ist wie der seiner weiblichen Engel.

Und gegen dieses arm lauter schöngeschwunge­nen Linien bestehende Bild die herbe Kraft Albrecht Dürers in seinenAposteln" aus der Münchener Pina­kothek. Hier liegt die künstlerische Idee gleich stark im Ausdruck der Köpfe wie in der Stel­lung der Figuren und in der Draperie der Mäntel. Dürer hat mit Bewußtsein die einfachste aller Stellungen, die auf zwei Füßen, gewählt. Die Mäntel umhüllen in schweren, wuchtigen, feier­lichen Falten der eine rot, der andere weiß die Gestalten des So geirannt nach den ersten Worten in dem auf­geschlagenen Buch, die die Madonna geschrieben hat: NaAnitieat aniina msa äo- nünurn.

Paulus und Markus.