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sitzen, als immer bemitleidet zu werden, immer seine verjährte Schuld vorgehalten zu bekommen.
Sie nahm sich eine kleine Wohnung, trug all ihren Mädchenkram dort wieder Zusammen und lebte dort mit ihrem Dienstmädchen zurückgezogen. Lange Zeit kam sie kaum aus dem Haus. Müßig lag sie auf der Chaiselongue, las Romane, starrte mit tränenfeuchten Augen vor sich hin, durchblätterte die Zeitungen. Nach und nach erwachte in ihr wieder die Lust, ins Theater zu gehen; die alte Liebe, die ihr so viel Kummer gebracht hatte, die Liebe für die dramatische Kunst war geweckt. Die Abende waren furchtbar lang; und so entschloß sie sich wieder, die Theater zu besuchen; in alle kam sie, nur nicht ins Hoftheater, wo Straßmann spielte, das brachte sie nicht übers Herz.
Bald aber sprach eine Stimme in ihr immer lauter, die behauptete, Repertoire und Darstellung in allen andern Theatern ständen weit hinter den Leistungen der Hofbühne zurück. Sie nahm sich vor, einmal, wenn Straßmann nicht spielte, das Hoftheater zu besuchen. Und sie tat es auch und konnte es öfter tun, da der große Straßmann jetzt wenig auftrat. Er fühle sich abgespannt, bedürfe der Ruhe, hieß es in den Tagesblättern. Paula wußte, was das hieß: Straßmann
mußte in letzter Zeit viel Ärger gehabt haben; denn traten ihm Unannehmlichkeiten in den Weg, so konnte er einfach nicht spielen.
Kaum war Straßmann von Paula geschieden worden, da tauchten allerorts immer bestimmtere Gerüchte auf, daß sich die neue Heroine des Hoftheaters, die dunkeläugige Kanders, der besonderen Gunst des großen Mimen erfreue. Fräulein Martha Kanders hatte die schönsten Toiletten, war geistreich, hatte eine große, auffallende Gestalt und einen Schwarur Verehrer, die ihr Herz erobern wollten.
Da Straßmann seine kleine hausbackene Frau abgeschüttelt hatte, da die brillante Köchin nicht mehr zu halten gewesen war, die unter Paulas Leitung seinem Magen täglich mit den köstlichsten Gerichten geschmeichelt hatte, war er unstet bald da, bald dort in Herrengesellschaften aufgetaucht, hatte gezecht und gespielt, gelacht und gejammert, daß er nun kein Heim besäße — daß er aber auch keines besitzen dürfte, denn er, ein Priester der Kunst, dürfe nur ihr gehören. Die hunderterlei Einladungen, die ihm ins Haus flogen, konnten ihm nicht das alles ver- gesfen machen. Und so war er, um ja der Kunst nicht untreu zu werden, immer öfter der Einladung der dunkeläugigen Heroine Martha Kanders gefolgt, nach dem Theater bei ihr den Tee zu nehmen. Den Tee — Straßmann schüttelte sich, wenn er an dieses Wort dachte, an die Wasserbrühe, die ihn: seine opulenten Soupers ersetzen sollte. Aber er ging hin, kam immer wieder, denn die Kanders war geistreich, witzig, spitzig und sprach unendlich viel von der Kunst im allgemeinen und von ihrer und seiner Kunst im besonderen. Das entzückte und berauschte ihn anfangs, er wurde hier fachmännisch gewürdigt.
Und so fanden sie sich in der Liebe zur gleichen Sache; — ein stadtbekanntes Verhältnis wurde daraus. Auf die Dauer freilich konnten der wässerige Tee und die belegten Brötchen ihn nicht befriedigen, ebenso kam ihm das Lob der Kanders immer dünner, immer mehr fachmännisch trocken vor. Es galt seiner Technik und traf seine Technik zugleich. Sie sah ihn mit den Augen des Kollegen. Wenn er die Stirn in Falten legte, wenn er sich langsam in den Sitz zurückfallen ließ, selbst wenn er sich eine Zigarette anzündete, dachte sie an irgend eine Szene aus irgend einem Stück, wo er es ebenso machte. Er trug diese Szene nicht aus dem Leben ins Stück hinein, sondern vom Stück ins Leben hinaus. Er lebte in andern Rollen, in andern Charakteren, mit andern Gefühlen, er sprach mit den Worten seiner Dichter, er lebte mit dem Pathos seiner Klassiker.
Martha Kanders ließ ihn das fühlen, sie riß wieder den Schleier von ihm.
„Aber, Francois, das sind ja ,Die Räubeck IV. Akt!" . . . „Aber, Francois, das sind ja ,Jbsens Gespensteck II. Akt!" . . . „Aber, Francois, du sprichst ja wie in Schnitzlers Liebeleü!"
Das kränkte und erregte Straßmann sehr, es nahm ihm den Halt, den Selbstglauben, dessen er notwendig bedurfte. Nach solch einer Bemerkung klappte er scheu zusammen, und doch kochte es in ihm — aber es kochte mit dem gleichen Feuer, das er für Zornausbrüche auf der Bühne brauchte.
So stand der große Straßmann von der grausamen Hand seiner neuen Freundin immer wieder vor sich selbst bloßgedeckt da — und verlor dabei sich selbst, sein eigenes Ich, das aus einer vollen, melodischen Stimme, aus gütigen Phrasen, aus einem gemessenen Gang bestand. Er konnte nicht ohne Rolle sein, und Kanders, die verwöhnte Theaterdiva, wollte ihn, wie früher den jungen, feurigen, etwas einfältigen Leutnant „ohne Rolle" haben. Und doch hatte er die Kraft nicht, sich von der Kanders loszureißen; er fürchtete sich vor jedem neuen Verhältnis — was drängte sich auch alles an Straßmann heran und wollte geliebt werden! Wie leicht konnte die Nachfolgerin der Kanders ihn enttäuschen.
Und ganz heimlich dachte er an seine Ehe zurück. Paula war immer Publikum gewesen, all die Jahre hindurch, nur das Publikum geblieben, das ihn liebte, ihn lobte, ihn vergötterte und ihm schmeichelte. Er hatte vor ihr nie in seinem seelischen, erbärmlichen Neglig6 so dagestanden wie vor der Kanders dunkeln Augen. Wann hätte je die kleine Paula, wenn er sie küßte, zu ihm gesagt „Francois — Romeo auf der Strickleiter — aber bitte keinen so breiten Theaterkuß!" Und er, der große Straßmann, mußte Publikum um sich haben, immer Publikum, um vergöttert, gepflegt, geschmeichelt zu werden. . .
Die kleine Frau Paula Straßmann las zuerst mit etwas Schadenfreude, dann aber immer mehr mit Empörung die Kritiken in den Tagesblättern über ihren früheren Gemahl. „Nach längerer Pause trat gestern wieder das langjährige Mitglied unseres Hoftheateks, Herr Straßmann, auf." Man riet ihm, sich noch zu erholen, seine Leistungen ständen nicht mehr auf der früheren Höhe, usw.
Konnte das möglich sein? dachte Paula. Konnte seine Kunst wirklich nicht mehr auf der Höhe stehen, begann er zu altern, wandte sich die Gunst der Kritik, deren er sich 15 Jahre erfreut hatte, von ihm ab?
Und durch diese neugierigen, ängstlichen Fragen, die sie sich selbst stellte und sich selbst nicht beantworten konnte, wurde sie immer mehr aus ihrer Ruhe aufgepeitscht, sie mußte ihn auf der Bühne sehen, ihn selbst beurteilen; gerade das mußte ihr, die sie ihn Zwei Jahre lang nicht mehr gehört und gesehen hatte, am vorurteilslosesten gelingen.
Das nächste Mal, da Straßmann in einer seiner früheren Glanzrollen auftreten sollte, nahm sie sich einen versteckten Sitz und ging ins Hoftheater. Trotz der letzten, wenig günstigen Kritiken über Straßmann war das Publikum sehr zahlreich erschienen. Straßmann hatte heute keinen guten Tag, die Kritiken entmutigten ihn, die Kanders nahm dies zum Ausgangspunkt langer fachmännischer Erörterungen und verlangte außerdem seit Wochen von ihm, er sollte sie, da nun die ganze Stadt seit zwei Jahren von ihrem Verhältnis sprach, heiraten. Wäre er für sie noch der große Straßmann gewesen, dann hätte sie sich mit einem Liebesverhältnis begnügt, jetzt aber, da sein Ruhm zu erblassen anfing, da konnte sie die Beziehungen mit ihm nur als seine Frau fortsetzen.
Die Kanders heiraten! Das war unmöglich! Täglich, stündlich von seiner Technik, von seinen Posen, von seinen Zitaten zu hören, täglich, stündlich auch im eigenen Heim nicht einmal auf Lorbeeren ausruhen zu dürfen, das ging nicht an! Das bedeutete für ihn soviel wie Selbstvernichtung!
Er stand in seiner Garderobe vor dem Spiegel und machte sich schön, schöner noch, als er war, er legte sich weit-