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nicht weniger sorgfältig in Unordnung gebracht als alle Tage, und sie trug eine hübsche Bluse. Kein einziger Toilettezierat fehlte. . . Das Licht der Lampe weckte Reflexe auf dem
matten Silber ihrer Gürtelschnalle, ihren halbmondförmigen Ohrringen, der Brosche und der Uhrkette. Auch trug sie einen hohen weißen, steifen Halskragen. . . Bruno schöpfte rasch Atem, denn blitzschnell zog er den Schluß, das Kind einer Frau, die diesen Kragen umgelegt habe, könne nicht sehr krank sein.
„Ah, du bist's?" sagte die junge Frau in einem Ton, der nachlässig klingen sollte.
„Was ist?" brach Bruno los. „Soeben hör' ich, daß das Kind krank ist. . . Gestern, wie ich da war, hat ihm doch noch nichts gefehlt."
„Gestern warst du nicht da", berichtigte Kamilla. „Seit gestern abend liegt er. Du brauchst übrigens nicht solche Augen zu machen. Es ist nicht von Bedeutung."
Ihr mühsam unbefangener Ton sagte ihm nur, daß es doch wohl von Bedeutung war.
„Was fehlt ihm? Halsweh natürlich! Diphtheritis!"
„Keine Spur!"
„Ein Ausschlag?"
„Auch nicht. Er ist eigentlich überhaupt nicht krank, sondern..."
Hier stockte sie wieder. Sie traute sich einfach nicht, dem Schwager die Sache mitzuteilen, in die sie, die Eltern, sich doch finden mußten.
„Weißt du, es war so . . ." begann sie mit einem Blick auf die Tür, als sollte ihr von dort jemand zu Hilfe kommen, und wirklich tat sich diese eben auf und eine weibliche Gestalt trat herein. Bruno kannte sie nicht. Ein junges Mädchen, gleichfalls mit dunkelm Haar, das aber ebenso glatt war, wie das seiner Schwägerin zerzaust, eine kleine Zierliche Figur, die sich mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit bewegte, als wäre sie hier zu Haus.
Bruno starrte sie an. Wer war denn das?
„Du, Kamilla, ich brauch noch ein paar Tücher."
„Dort auf dem Tisch liegen die Schlüssel." Sie holte sie jedoch rasch selbst. „Da! Der sperrt den Wäschekasten. Du findest schon . . . Unten . . . Links . . . Na, vorstellen muß ich iba dir doch. Mein Schwager. . . Und das ist Fräulein Ganenberg, Doktor Gartenbergs Tochter und selber Doktor . . . Du weißt doch."
Bruno verbeugte sich knapp; er hatte in diesem Augenblick wenig für die Anforderungen der Höflichkeit übrig, und es verdroß ihn, wie Kamilla ihn hinhielt.
„Vor allem weiß ich noch nicht, was dem Buben fehlt!"
Kamilla warf einen flehenden Blick auf die Freundin. Einen Blick, der so deutlich bat: Sag' du es ihm, ich trau mich
nicht, daß das junge Mädchen, das schon zur Schlafzimmertür gegangen war, umkehrte.
Sie kam auf Bruno zu, ihn ernst anblickend, und er begegnete einem Augenpaar, dessen Blick ihm seltsam, unerklärlich vertraut war, als träfe er da jemand wieder, den er in einer schattenhaften Vergangenheit gekannt und geliebt hatte.
„Der Kleine ist gestern nachmittag vom Sessel gefallen", sagte die Stimme, die ihn ebenfalls so berührte, als habe er sie oft und gern gehört, „und hat sich den Kopf angeschlagen."
Diese unerwartete Mitteilung versetzte Bruno in heftige Erregung, doch konnte die Aufregung in seinem Innern sich nicht ungehindert erheben, denn ein Gegeneinfluß, der von diesem fremden Mädchen ausging, wirkte dämpfend.
„Vom Sessel gefallen? Warum gibt man denn nicht besser auf ihn acht?" wandte er sich an die Schwägerin.
Kamilla zuckte schmollend die Achsel. „Ich war nicht zu Haus, und die Bonne ist für einen Augenblick aus dem Zimmer gegangen. Sie kann auch nicht immer aufpassen wie ein Haftelmacher. . . Jedes Kind fällt rinmal. . . Manche fallen aus dem Fenster auf die Gasse und bekommen keine Gehirnerschütterung."
Gehirners chütterung?
Kamilla hatte plötzlich das Tuch vor den Augen und schluchzte auf. Es war wohl hauptsächlich eine Mahnung an den Schwager, daß sie, die Mutter, doch die nächst Beteiligte sei und nicht noch obendrein ausgezankt werden dürfe.
Gehirnerschütterung? Da hatte man die Bescherung!
Bruno Vodenbauers Züge wurden gleichsam starr, während ihn der Gedanke überfiel: Du hast dein Herz an etwas ge
hängt, du wirst es verlieren. Das Kind ist weg, weg, weg!
„Ich bin nicht schuld", schluchzte Kamilla.
„Nein, sei ruhig, nicht du, ich bin schuld", antwortete Bruno, auf sie Zutretend.
„Du?" Sie hob erstaunt die Augen aus dem Taschentuch.
„Ja, ich . . . Weil ich ihn zu lieb hatte. Wenn ihr ihn verliert, bin ich schuld, nur ich."
Das fremde Mädchen machte wieder einen Schritt auf ihn zu. „Von Verlieren ist gar nicht die Rede", sagte sie in verweisendem und doch auch tröstendem Ton. „So steht es nicht . . . Der Bruno wird bald wieder gesund ... In ein paar Tagen schon. Es ist nur ein böser Zwischenfall."
„Glauben Sie?" wandte sich Bruno zweifelnd zu ihr, von der Sicherheit des jungen Mädchens noch wenig überzeugt. „Und die Folgen? Was nachbleibt? So ein zartes Gehirn!"
„Gar nichts bleibt zurück. Nur in der ersten Zeit nach der Genesung muß man noch sehr achtgeben, sonst nichts."
Jetzt verschwand sie wirklich, während Kamilla noch unter Tränen vorbrachte: „Der Lisbeth kann man glauben, sie ist doch Doktorin ... sie praktiziert im Kinderspital ... sie hat solche Fälle schon genug gesehen und kennt sich aus."
Nun trocknete sie ihre Tränen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte vor Bruno gewaltige Angst gehabt. Jetzt war es ihm beigebracht!
„Kann ich hinein?" fragte Bruno brüsk.
„Ich weiß nicht. Ich muß die Lisbeth fragen . . . Dir, Lisbeth, darf er hinein?" fragte sie die Zurückkommende
„Für ein paar Minuten schon, dann muß wieder Ruhe sein. Kommen Sie!"
„Aber schreck dich nicht, Bruno!" bat Kamilla noch halblaut. „Du bist so nervös, und das arme Hascherl liegt da . . ."
Zwar auf den Zehenspitzen, aber dennoch hastig und erregt schritt Bruno auf dem Läuferteppich ins Zimmer hinein. Es war länger und breiter als das vordere, hatte aber sonst die gleiche Anordnung, nämlich die Fenster auf der Längsseite. Eine durch einen grünen Seidenschirm abgeblendete Stehlampe beleuchtete es schwach aus der fernsten Ecke her.
Das Messingbettchen des Kindes nahm die der Eintrittstür gegenüberliegende Ouerwand neben dem entfernteren der beiden Fenster ein. Nur schräge, schwache Lichtstrahlen drangen bis zu der kleinen Gestalt, die darauf ruhte.
Das da war sein munterer kleiner Bruno mit den glänzenden Augen und dem Schelmenlächeln? Blaß, mit fast entstellten Zügen, das dunkele Haar feucht am Kopf klebend, mit starren, offenen Augen lag das Kind da.
Das Herz krampfte sich dem jungen Mann zusammen, und es würgte ihn an der Kehle. Kamilla hatte ihm nicht die Wahrheit gesagt. Dieses arme Wachsbild da würde niemals mehr lachen und herumspringen!
Doch bevor er noch seinem geheimen Entsetzen Ausdruck verleihen konnte, faßten ein paar warme kleine Finger unbemerkt seine eiskalte Hand und versetzten ihr einen bedeutungsvollen Quetscher. „Es ist schon viel besser geworden, die Starrheit weicht", flüsterte Liesbeth Gartenberg. „Die Farbe kommt auch schon zurück, und er hat sich schon ein paarmal bewegt."
Jetzt erst gewahrte Bruno seinen Bruder, der auf einem Stuhl am Fenster neben dem Kopfende des Bettes gesessen hatte und nun dastand, mit besorgtem Gesicht auf den Kleinen starrend. „Es ist die höchste Zeit, daß eine Wendung eintritt", murmelte er. „Ganze vierundzwanzig Stunden