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liegt er schon so da. . . Du hast es nicht gewußt, Bruno? Hat dir denn der Papa nichts gesagt?"
„Nein, ich bin zufällig gekommen", grollte Bruno.
Ihn: fiel ein, daß er den Vater gestern abend gesehen hatte, ehe sie beide schlafen gingen... Er hatte ihn auch noch gefragt, ob es nichts Neues gäbe, und dunkel empfunden, daß sein „Nein" zögernd und unsicher klang. Aber er hatte ja gar nicht gewußt, daß der Papa hier gewesen war.
Ob er es ihm verschwiegen, um ihn zu schonen, oder lediglich aus gewohnter Selbst- und Ruheliebe? Genug, er hatte sorglos geschlafen und den Tag ohne Ahnung zugebracht, während das Kind so dalag.
Karl Bodenbauer, ein kräftiger, noch jugendschlanker Mann mit nicht gerade schönen, aber männlichen Zügen — in: ganzen von seinem Bruder sehr verschieden — blickte kummervoll auf das Kind.
Im Zimmer herrschte ein Geruch von scharfen Essenzen, und die seitliche Beleuchtung der Gegenstände und Personen, die langen unbeholfenen Schatten an der der Lampe gegenüberliegenden Wand und der Decke vermehrten nur den unheimlichen Eindruck.
Eben kam aus einer kleinen Tür auf der den Fenstern gegenüber befindlichen Zimmerseite eine untersetzte kleine Person mit Hellem Kraushaar und einer eingedrückten Nase, die eine große Platte mit allerlei darauf trug. Es war die Kindergärtnerin. Das Mädchen sah zum Erbarmen aus. Es hatte verschwollene Augen, Flecken auf den Backen, die vom Weinen förmlich aufgebeizt waren, und einen gehetzten Blick. Sie flüsterte erregt mit Fräulein Gartenberg, die nach einem Platz suchte, wo die Bonne ihr Brett abstellen konnte, und sich dann zu den Brüdern wandte. „Jetzt möchte ich doch bitten. . . Wir bringen das Bubi gewiß bald zu sich . . ."
Stumm faßte Karl seinen Bruder unter den Arm und zog ihn hinaus.
Drinnen in der helleren Beleuchtung standen sie einander blinzelnd gegenüber.
„So ein Pech!" murmelte Karl. „Begreifst du das? Fällt vom Stuhl! . . . Wenn er noch ein wildes Kind wäre! . . . Aber so!"
„Warum habt ihr denn nicht einen Professor holen lassen?" fragte Bruno.
„Wir haben ja einen gehabt, Geßner, den berühmtesten, wie du zugeben wirst . . . Aber der Geßner hat auch gesagt, er kann nichts anderes anordnen, als was der Gartenberg schon getan hat. . . Vis jetzt hat's noch nicht den Anschein, als ob etwas helfen wollte . . . Die Lisbeth wird aber wieder was probieren. . . Die hat sich schon eine
Mühe gegeben!" Er seufzte. „Wir müssen Geduld haben, Bruno . . . Geduld — und Nerven. . . Man kann nicht hoffen, so durchs Leben Zu kommen, mit lauter Glück", setzte er mehr für sich selbst hinzu. „Der Bub ist sonst so lieb und gut. . . Einen Kummer muß er einem doch machen."
Bruno setzte sich, stemmte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände und stierte düster in die Glut, die aus der offenen Tür des Ofens an der Schlafzimmerwand schimmerte. Er glaubte an die Vertröstung nicht, daß die Sache gut ausgehen werde. Ihm schien eine dunkele Wolke über dem Haus zu hängen.
Wie lange sie so verweilten, Bruno im Sitzen vor sich hinstarrend, Karl stehend und hinein horchend, wußten sie nicht. Doch plötzlich erscholl von drinnen ein Schrei, daß Bruno schreckensbleich aufsprang, obgleich er im selben Augenblick erkannte, es sei ein Freudenschrei.
Karl stürmte hinein, und er folgte ihm. Drinnen stießen sie zuerst auf die Bonne, die ihnen ganz außer Rand und und Band vor Entzücken entgegenkam — sie war es, die ge- schrien hatte — und ihnen freudestrahlend zurief: „Er ist bei sich! ... Er hat gesprochen . . . Sein erstes Wort war MÜH."
„Nur ruhig, ruhig, Fräulein!" mahnte Karl, während sie zu dem Bett hineilten.
Jetzt sah alles ganz anders aus. Das Kind hatte sich bewegt, hatte gesprochen, seine Augen starrten nicht mehr glasig, wie gebrochen, die Lider hatten sich müde gesenkt. Es war ein mattes, zerschlagenes Bübchen, das dalag, aber doch keine leblose Wachsfigur mehr.
Kamilla kauerte am Kopfende und sprach mit wonnig feuchten Augen auf den Kleinen ein: „Du, schau, wer ist denn das? Da ist der Papa und der Onkel. Und wertst das?"
Langsam schlug der Kleine die Augen auf und richtete sie auf die hellbeleuchtete Gestalt am Fußende, denn jetzt stand noch eine Lampe auf dem Fenstertischchen, die ihren Schein gerade auf Lisbeth Gartenbergs Gesicht warf. Eine Weile blickte das Kind stumm, als besänne es sich.
„Doktorfräulein!" kam es leise und schwer von seiner: Lippen, dann drehte er sich weg, der Wand zu.
„Er will Ruhe haben", sagte Lisbeth Gartenberg. „Du kannst jetzt ohne Sorge mit den Herren hineingehen, Kamilla. Das Kind ist übern Berg."
Karl bat, sie möchte ihn statt ihrer an dem Vettchen sitzen lassen, und kam damit Bruno zuvor, der eben die gleiche Bitte hatte stellen wollen. Doch gegen den Vater mußte er zurückstehen. Also folgte er der Schwägerin und der jungen Doktorin in das Nebenzimmer. (Fortsetzung folgt.)
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Einiges über Fremdwörter.
Von R. Artaria.
ie Deutschen haben sich im Punkt des Fremdwortmißbrauchs seit den letzten sechzig Jahren sehr gebessert. Niemand fühlt sich heute mehr „chokiert" durch eine „Jndelikatesse", keine gebildete Frau „aspiriert" mehr,- „Madame" genannt Zu werden, sie erwartet keine „Digestionsbesuche" nach einer „Soiree", auch keine „zarten Attentionen" als „Revanche" dafür. Wir „enchantieren" uns nicht mehr über eine
„pittoreske" Landschaft und bekennen uns auch nicht als durch einen „Aventurier düpiert", wenn wir bei einem Schwindler hereingefallen sind. Die Kunst, ein gutes Deutsch zu schreiben, steht heute höher im Wert als der billige Aufputz mit fremden, oft genug auch noch falsch angewendeten Brocken.
Freilich: ganz sind die Hoffnungen der seit Jahrzehnten eifrig am Werk befindlichen Sprachreiniger nicht in Erfüllung gegangen. Der „Glimmstengel" hat die Zigarre nicht verdrängt, der „Nordstein" nicht den Magnet. Aus dem
„Pianoforte" ist kein „Leisestark" geworden, sondern ein deutscher „Flügel" und ein höchst unitalienisches „Pianino". Die Visite hat sich wohl zum Besuch umgewandelt, aber die Visitenkarte nicht zur Besuchskarte, und die von dem Besuch der Dame des Hauses etwa am Geburtstag überreichte Bonbonniere will ebensowenig zur Gutchenschachtel werden wie der Schokoladeautomat Zum Leckerknecht. Wohl hat sich manche gute Verdeutschung rasch eingebürgert: Vor
sitzender für Präsident, Beispiel für Exempel, Einschreiben für Rekommandiert und anderes, das eben leicht und sinngemäß zu übersetzen ist. Aber wir gratulieren unfern Freund doch weiter, wir kondolieren und kritisieren, wir haben einen Salo^, wir interessieren uns für ein gutes Menü und für eine pikante Sauce, schon deshalb, weil die Übersetzung der letzteren als „Tunke" die Vorstellung barbarischer mittelalterlicher Eßgewohnheiten wachruft.